© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Sarrazin, immer wieder Sarrazin
Parteitag: Den Sozialdemokraten steckt die Diskussion über die Thesen des Ex-Bundesbankers zur Integrationspolitik in den Knochen
Hinrich Rohbohm

Karin Seidel hat es nicht leicht an diesem Sonntag. „Endlich mal einer, der mich nicht wegen des Sarrazin-Buches beschimpft“, erzählt sie. Auch auf dem SPD-Bundesparteitag am vergangenen Sonntag ist der ehemalige Finanzsenator in aller Munde.

Seidel hat im Foyer vor dem Plenum einen Buchstand aufgebaut. Es finden sich Werke von Helmut Schmidt, Willy Brandt, Erhard Eppler und zahlreichen anderen SPD-Größen auf dem Büchertisch. Und Thilo Sarrazin? „Den haben wir auch“, sagt die Sozialdemokratin. Und kramt das rotfarbige „Deutschland schafft sich ab“-Buch unter dem Tisch hervor. Sarrazin ist auf dem SPD-Parteitag zur Bückware verdammt.

„Ich kann doch auch nichts dafür, daß das Buch auf dem Markt ist. Die Leute können es doch erst mal lesen, dann können sie ja immer noch schimpfen“, wehrt sich die Frau. Die SPD tagt im ehemaligen Berliner Postbahnhof, der „Station“ in der Luckenwalder Straße. Ein Bau, der Arbeitermilieu versprüht, Stallgeruch erzeugt. Doch Arbeiter sind auf dem Parteitag nur wenige auszumachen. Pädagogen dafür um so mehr. Als der SPD-Bundesvorsitzende Sigmar Gabriel in seiner Rede auf die Bildung zu sprechen kommt, gibt es den meisten Beifall. Thilo Sarrazin? Der kommt erst am Ende der Rede des Parteichefs vor. „Laßt mich an dieser Stelle auch ein paar Anmerkungen zu einer Debatte machen, die vor Wochen unsere Öffentlichkeit überrollt hat“, beginnt Gabriel das Thema Integration anzuschneiden. Überrollt. Ein Wort, das viel über den Gemütszustand der SPD-Spitze bei diesem Thema aussagt.

Denn überrollt wurden vor allem die Funktionäre, weniger die Basis der SPD. Während die Parteispitze ihren unbequemen Ex-Bundesbanker aus der SPD ausschließen möchte, spricht dieser offenbar manchem Genossen aus der Seele. Selbst die Parteizeitung Vorwärts kommt nicht umhin, diesen Umstand zu benennen. „Streit um Sarrazin“ schreibt  sie auffällig neutral. Die unzähligen Protestschreiben der Basis müssen einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben, der sich auch in den Lesermeinungen des Blattes widerspiegelt. „Glaubt ihr wirklich, die Debatte bleibt uns erspart, wenn wir Thilo Sarrazin rauswerfen? Fragt doch mal die Mitglieder, ihr würdet euch wundern! Jahrelang habt ihr die Meinung der Wähler und Mitglieder nicht hören wollen“, schreibt etwa Beate Bukowski aus Stuhr.

Und Eva-Maria Korn schreibt in einer E-Post an die Vorwärts-Redaktion: „Wenn in unserer Gesellschaft Mißstände nicht mehr kontrovers diskutiert, geschweige denn beim Namen genannt werden dürfen, dann wundert euch nicht über das Phänomen der Politikverdrossenheit und Resignation. Mit Sarrazin schickt ihr jemanden auf den Scheiterhaufen, der nur das ausspricht, was ihr nicht hören wollt, was aber viele Menschen denken.“

Auf dem Parteitag denken die Funktionäre anders. „Wer sich intellektuell außerhalb der Grundlagen unserer Verfassung bewegt, der kann das nicht innerhalb der deutschen Sozialdemokratie tun“, begründet Gabriel unter starkem Beifall der Delegierten die Ausschlußbemühungen der SPD-Spitze.

Daß Sarrazin derzeit aber noch SPD-Mitglied ist, haben offenbar nicht alle Genossen realisiert. „Der ist doch schon längst ausgeschlossen, oder?“, meint der Jungsozialist Valmir Visoka aus Hamburg-Rahlstedt etwas verunsichert. Gemeinsam mit einem afghanischen Freund will er einen Juso-Verband in Hamburg-Jenfeld gründen. „Is’ so ’ne Idee von Johannes Kahrs. Wir sind Leader und wir sollen unseren Freundeskreis in die SPD holen“, verrät er. Kahrs sei es auch gewesen, der sie ermuntert habe zum SPD-Parteitag zu fahren. „Wegen diesem Integrationsdings, der hier stattfindet.“ Die Integrationsdebatte mit dem Neuköllner Bezirksbürgermeister Buschkowsky? „Ja genau, das war’s, glaub ich.“ Und weiter: „Also, der Sarrazin darf seine Meinung schon äußern, aber daß Juden schlauer sein sollen als Muslime, stimmt einfach nicht“.

Geistreiches zum Thema Sarrazin ist auch am Infostand der Arbeitsgemeinschaft Selbständige (AGS) in der SPD zu vernehmen. Eine junge Frau hält hinter einem Bistrotisch die Stellung. „Wie lange gibt es die Arbeitsgemeinschaft schon? Boah ... weiß nicht. Lange.“ Und wie steht die Organisation zu Sarrazins Buch?  „Äh, na ja, also, so wie alle sozusagen, die Meinung über ihn is’ ja klar. Äh, Thorsten, wie stehen wir zu Sarrazin?“ Gemeint ist Thorsten Heinze, Beisitzer im AGS-Bundesvorstand, Kreistagsabgeordneter und SPD-Ortsvereinsvorsitzender. „Jeder hat da seine eigene Meinung zu“, sagt er. Was die „technische Ausführung“ von Integration betreffe, da habe Sarrazin „sicherlich recht.“ „Aber andere Aussagen, die Sie ja sicher besser kennen als ich, kann ich nur ablehnen.“ Welche? „Na ja, das mit den Genen etwa“. Auf den Einwand, daß davon nichts im Buch stehe, reagiert der Mann irritiert. „Steht da nicht? Na ja, ich hab das halt so im Fernsehen gehört“, gesteht er. Er dürfte damit nicht der einzige gewesen sein.

Foto: SPD-Chef Sigmar Gabriel (li.), Neuköllns Berzirksbürgermeister Heinz Buschkowsky:  „Der ist doch schon längst ausgeschlossen, oder?“

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