© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/10 01. Oktober 2010

Zapfenstreich für eine Armee
Bundeswehr: Die lautlose Abwicklung der Volksarmee
Hans Brandlberger

Die Fahne, die am 3. Oktober 1990 in Strausberg auf dem Areal des einstigen Ministeriums für Verteidigung der DDR flatterte, unterschied sich in einem kleinen, aber nicht unwesentlichen Detail von jener, die am Abend zuvor eingeholt worden war: Sie kam ohne Hammer und Zirkel im Ährenkranz aus.

Auch die Soldaten präsentierten sich an diesem Tag in einer neuen Uniform, jener der Bundeswehr. Wo bis zuletzt die Fäden der Nationalen Volksarmee (NVA) zusammenliefen, nahm nun das Bundeswehrkommando Ost unter der Führung von Generalleutnant Jörg Schönbohm seine Arbeit auf. Sein Auftrag war, die Hinterlassenschaft der DDR-Streitkräfte geordnet und zügig abzuwickeln. Keine neun Monate später konnte bereits Vollzug gemeldet werden.

Die Herstellung der deutschen Einheit auf militärischem Gebiet hatte damit genau jenen Weg genommen, den das Führerkorps der NVA als den aus seiner Sicht denkbar ungünstigsten vermeiden wollte. Gänzlich realitätsfern waren die Hoffnungen, mehr vom Erbe der DDR-Streitkräfte in eine gesamtdeutsche Zukunft hinüberzuretten und damit sich selbst eine berufliche Perspektive in Uniform offenzuhalten, allerdings nicht.

Solange das Modell eines föderativen Dachs über souveränen und mehr oder weniger gleichberechtigten Staaten als Lösung der deutschen Frage erscheinen durfte, konnte davon ausgegangen werden, daß als Streitmacht einer reformierten DDR eine ebenso reformierte NVA erhalten bliebe. Auch als dieses Modell in den Hintergrund trat und sich der Blick auf die Wiedervereinigung richtete, blieb eine Nische vorstellbar, in der wenigstens vorübergehend die NVA ihre Existenzberechtigung würde haben können. Sollte die Sowjetunion, wovon in West und Ost lange ausgegangen wurde, ihre Zustimmung zu einer uneingeschränkten Nato-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands verweigern, so könnten nach dem Modell „Ein Staat – zwei Armeen“ eigenständige Streitkräfte auf dem Territorium der DDR für dessen militärische Sicherheit sorgen. Mit dem überraschenden Zugeständnis freier Bündniswahl, das Bundeskanzler Helmut Kohl Mitte Juli 1990 vom sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow erhielt, war auch dieser letzte Strohhalm nicht mehr greifbar. Die Einheit wurde durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes hergestellt.

Es entsprach den Intentionen der Bundeswehrführung, daß hinsichtlich der Streitkräfte nach einem entsprechenden Muster verfahren werden konnte. Bei allem Respekt vor den militärischen Fähigkeiten der NVA mußten doch ihr Geist und ihre Rolle im SED-Staat als suspekt erscheinen. Auch die bald nach der Revolution in der DDR auf den Weg gebrachte  Militärreform konnte an diesem Bild nichts mehr ändern.

Mit der ideologischen Prägung, den verinnerlichten und praktizierten Formen archaischen Drills und den mit einem westlichen Verfassungsstaat nicht zu vereinbarenden Auffassungen von der Rolle des Soldaten in der Gesellschaft, die für die NVA kennzeichnend waren, gab es keinen kleinsten gemeinsamen Nenner. Die NVA sollte ein abgeschlossenes Kapitel deutscher Militärgeschichte werden, aber nicht zur Tradition der Bundeswehr zählen. Die ersten Konsequenzen wurden bereits vor der Wiedervereinigung gezogen.

Die Generalität und Admiralität der NVA sah sich in den Ruhestand versetzt, zahlreiche Offiziere und Unteroffiziere, die sich keine Chancen mehr ausrechnen durften, quittierten den Dienst. Was Jörg Schönbohm übernahm, war eine kopflose Armee, in die Lücke stießen eilig kommandierte Führer aus dem Westen.

Die mehr als nur vorläufige Weiterverwendung in der Bundeswehr war für knapp 11.000 und damit etwa jeden achten der am 3. Oktober 1990 übernommenen ehemaligen NVA-Soldaten möglich. Dies ist vor dem Hintergrund, daß die Bundeswehr als Konsequenz des Zwei-plus-Vier-Vertrages ihren Gesamtumfang bis Ende 1994 von 521.000 auf 370.000 Soldaten zu reduzieren hatte, keine geringe Zahl.

Degradierung um bis zu zwei Ränge

In Kauf nehmen mußten die Übernommenen allerdings eine Degradierung um nicht selten zwei Ränge, da die NVA in ihren Beförderungen zügiger verfahren war. Über 1.500 von ihnen wurden zudem im Laufe der Jahre wegen „Einstellungsbetruges“ entlassen, nachdem ihnen Stasi-Verbindungen nachgewiesen worden waren.

Dem Image der Bundeswehr hat die Entscheidung, das Erbe der NVA  demonstrativ nicht anzutreten, genutzt und nicht geschadet. Unter den Bewerbern und den längerdienenden Soldaten sind solche aus den neuen Bundesländern überproportional vertreten. Frühzeitig hat die Bundeswehr durch Kommandierungen von Ost nach West und in umgekehrter Richtung auf Durchmischung und Angleichung gesetzt. Den Anspruch, als „Armee der Einheit“ einen wesentlichen Beitrag zur „Überwindung der Teilung in den Köpfen“ geleistet zu haben, erhebt sie nicht zu Unrecht.

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