© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/10 24. September 2010

„Panzer gegen Polen“: Honeckers Geheimplan gegen Solidarnosc
Drohgebärden gen Osten
Christian Schwiesselmann

Höchste Alarmstufe in der Armee. Die Marschbefehle sind erteilt. Alle Nerven liegen blank. 10.000 Soldaten stehen bereit zum Einmarsch in Polen. Die 9. Panzerdivision – eine deutsche Elitetruppe – soll bis Kolberg vorstoßen. Wer jetzt an 1939 denkt, irrt. Soll irren, denn „Panzer gegen Polen“ spielt mit Assoziationen.

Tatsächlich geht es in der Co-Produktion von MDR/Arte um Polen, die DDR und die Solidarnosc (Arte, 29. September, 20.15 Uhr). Nach Streik- und Protestwellen im sozialistischen „Bruderstaat“ standen die „befreundeten“ Armeen des Warschauer Paktes im November 1980 kurz vor dem Einmarsch. Erst als General Wojciech Jaruzelski am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängte, beruhigte sich die revolutionäre Situation, die 197 Menschen das Leben kostete. Tausende wurden inhaftiert.

Produzent Henry Köhler weiß, was das Fernsehpublikum goutiert: Kettenfahrzeuge, Helmut Schmidt als obligatorischer Zeitzeuge, dramatische Hintergrundmusik und eine sonore Erzählstimme – das sind die Stoffe, aus denen man staatsmännisches Pathos generiert. Die Dokumentation kreist um das Verhältnis der DDR zur Volksrepublik Polen. Dabei tangiert sie auch die innerdeutschen Beziehungen. Geschickt verknüpft Köhler den Arbeitsbesuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt bei Erich Honecker im Winter 1981 mit den Ereignissen in Polen. Er schafft damit den Erzählrahmen, denn im selben Moment wurde der Ausnahmezustand verhängt. Während Schmidt davon überrascht wurde, war Honecker informiert.

Henry Köhlers brisante Botschaft lautet, daß sich Honecker in Moskau als kommunistischer Scharfmacher betätigte. Die SED-Spitze habe bei Geheimverhandlungen in Moskau versucht, alle Ostblockführer für eine militärische Lösung zu gewinnen. Ein Geheimplan sah eine Invasion 15 sowjetischer, zwei tschechoslowakischer und einer Division der Nationalen Volksarmee am Tag X vor, sollten die polnischen „Waffenbrüder“ um Jaruzelski bei der Niederschlagung der Gewerkschaftsbewegung scheitern. Tarnname der Geheimoperation: „Wintermarsch“. Um dieser Schande zu entgehen, wäre Jaruzelski, der 1981 zum Ersten Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei berufen wurde, in den Selbstmord geflüchtet. Das zumindest behauptet der greise General heute.

Angst vor dem Übergreifen der „Konterrevolution“

Wer die Befehlswege im Sowjetkommunismus kannte, kann sich SED-Chef Honecker schwer als Kriegstreiber vorstellen. Zwar war der Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, körperlich und geistig geschwächt, aber die Entscheidungen fielen nach wie vor in Moskau. Dennoch hatte auch Honecker Gründe, den Druck auf Polen zu erhöhen: Sein Hauptmotiv lag in der Angst vor dem Übergreifen der „Konterrevolution“ aus dem nahen Polen. Zeitzeugen schildern eindrücklich die liberale Atmosphäre im Warschau der 1980er Jahre: Jazz, westliche Zeitschriften und Debattenkultur – eine Bedrohung für die morbide DDR.

Nebenmotive bringt der damalige DDR-Botschafter in Polen, Horst Neubauer, zur Sprache: „Die DDR war von Steinkohle- und Schwefellieferungen abhängig. Auch der Export nach Polen war nicht unbedeutend.“ Zudem belasteten polnische Hamsterkäufe die eigene Versorgungslage zusätzlich. Am Beispiel der deutsch-polnischen Brückenstadt Görlitz zeigte sich dies deutlich. Kein Wunder, daß die DDR den „kleinen Grenzverkehr“ abriegelte.

Anders als bei der Niederschlagung des Prager Frühlings wären deutsche Einheiten an der geplanten Intervention beteiligt gewesen. Der ehemalige NVA-Offizier Hans-Joachim Jentzsch rechnete mit polnischen Partisanenkriegern und besonders hartem Widerstand gegen deutsches Militär. Die Ungewißheit der Soldaten sei „grausam“ gewesen.

Schließlich demonstrierte die NVA in einer Kommandostabsübung „Sojus 1981“ Härte. Ein monatelang andauerndes Manöver des Warschauer Pakts sollte den Polen klarmachen, was sie bei einem Aufstand gegen den Sozialismus zu erwarten hätten. Eine eindeutige Drohgebärde zur Diktatursicherung!

Insgesamt erhellt die Dokumentation, warum die Solidarnosc-Bewegung Anfang der 1980er Jahre unterdrückt werden konnte. Das hochkarätig besetzte Tableau der Zeitzeugen vermittelt Authentizität: Neben den Regierungschefs Schmidt und Jaruzelski kommen der Bürgerrechtler Konrad Weiß, viele NVA-Stabsoffiziere und hochrangige SED-Nomenklaturkader zu Wort.

Bisweilen wirken die Konservenaufnahmen aus dem DDR-Fernsehen etwas bemüht. Auch die vollmundige Ankündigung eines wissenschaftlichen Neuigkeitswerts enttäuscht. Bereits 1999 berichtete die junge freiheit über das Aufbegehren einzelner NVA-Offiziere gegen die geheimen Aufmarschpläne (JF 33/99). Der spannenden Geschichtsstunde tut das keinen Abbruch.

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