© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/10 17. September 2010

Heimkehr in die Fremde
Erst Ende der fünfziger Jahre kommt das Wolfskind Ursula Dorn nach einer Odyssee durch Ostpreußen, Litauen und in der DDR in einem normalen Leben an
Alexander Lechler

Das Wolfskind auf der Flucht“ ist der zweite Teil des biographischen Romans des Wolfskindes Ursula Dorn. Im ersten Teil „Ich war ein Wolfskind aus Königsberg“ schildert die Autorin die Zerstörung Königsbergs und ihre Leiden als Wolfskind in Litauen, bis sie 1949 mit ihrer Mutter nach Weißbach in die damalige DDR gelangt. Doch die Zeit des Leidens und der Entbehrungen ist für die 1935 geborene Ursula noch lange nicht vorbei, auch als sie 1953  in die Bundesrepublik flüchtet.

Daran trägt zu einem großen Teil auch die Mutter die Schuld. Sie erachtet es als selbstverständlich, daß die kleine Ursula allein zur Bestreitung des Lebensunterhaltes beiträgt. Das wenige Geld, das Ursula verdient, setzt die Mutter, von den Erlebnissen in Königsberg und Litauen offenbar traumatisiert, in Zigaretten um. Zwar artikuliert die Autorin diesen Mißstand immer wieder, äußert sich aber niemals in abfälliger Weise über ihre Mutter, obwohl sie mehrmals am Rande eines Zusammenbruchs steht. Schnell muß das Mädchen erwachsen werden, besucht den Konfirmandenunterricht, schließt eine Ausbildung zur Knopfmacherin ab, muß nach Feierabend bei Bauern arbeiten, um wenigstens das nackte Überleben zu sichern.

Da sie über Jahre keine Schule besuchen konnte, ist sie gezwungen, mehr als andere Lehrlinge zu investieren, schließlich müssen Bildungslücken geschlossen werden. Einzige Lichtblicke ihres noch jungen Lebens sind der Sport und die Westpakete eines Onkels sowie ein Kaninchenbraten zur Jahreswende 1949/50 bei einer Freundin, der selbst sechzig Jahre später noch Erwähnung findet.

Als die Zustände in der DDR immer schlimmer werden, beschließt sie, in den Westen zu flüchten. Über Berlin und Hamburg erreicht sie Kempen bei Krefeld. Aufgrund der anhaltenden Arbeitsresistenz der Mutter verbessert sich die Situation aber auch hier nicht. Anfeindungen der einheimischen Bevölkerung wie „Dat sind Russen oder Polen“ kommen hinzu. Erst als es 1955 zu einem vorläufigen Bruch und einer Trennung von der Mutter kommt, sollte sich ihre Situation langsam bessern. Dennoch war ihr Leben weiter von Arbeit und Entbehrungen geprägt. Als sie dann die Liebe ihres Lebens kennenlernt und 1958 heiratet, beginnt für sie etwas, was man als normales Leben bezeichnen kann. Auch nach der Geburt ihres Sohnes ist das Leben weiter von Armut geprägt. Trotzdem war sie nun, im 25. Lebensjahr, endlich auch „im Leben“ angekommen.

Der zweite Teil der Geschichte der Ursula Dorn ist alles andere als unspektakulär. Dafür steht ihr Einzelschicksal als Heimatlose stellvertretend für die Millionen entwurzelten Flüchtlinge der Nachkriegszeit in ihrer neuen Umgebung. Die einfache Sprache der Verfasserin macht die Erlebnisse sehr authentisch. Vieles wird sich bestimmt auch mit Erfahrungen oder Erzählungen der in vielen deutschen Familien tradierten Schicksale während der „erzwungenen Wanderschaft“ (Richard von Weizsäcker) der Ostdeutschen decken.

Auch wenn der erste Teil der Biographie mit den lebensbedrohlichen Erfahrungen des zehnjährigen „Wolfskindes“ in Ostpreußen und Litauen naturgemäß mehr erschüttert, schildert der zweite Teil alles andere als ein Idyll. Wie der Düsseldorfer Zeithistoriker Winfried Halter in seinem Schlußwort anmerkt, könne das Buch gerade auf jüngere Leser wegen deren Ferne zu den damaligen Lebensumständen sogar verstörend wirken und hätte gerade deshalb auch einen besonderen „pädagogischen Wert“ für Leser außerhalb der Zeitzeugengeneration.

Ursula Dorn: Das Wolfskind auf der Flucht. Biographischer Roman. Edition Riedenburg, Salzburg 2010, gebunden, 155 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

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