© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/10 17. September 2010

Mutter der Revolution
Deutsche Einheit: Nachruf auf die frühere Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley
Paul Leonhard

Es bedurfte solcher Menschen wie Bärbel Bohley, damit jener Teil der sozialistischen Einheitspartei, der es nach 1989 noch wollte, ohne die Last der alten Dogmen über den Sozialismus neu nachdenken konnte“, schreibt das Neue Deutschland in einem Nachruf auf die frühere Bürgerrechtlerin. In der Bild würdigt Altkanzler Helmut Kohl die Verstorbene: „Bohleys Tod muß uns Deutsche berühren, er muß aufhorchen lassen, er kann vielleicht auch wachrütteln.“ Und er sollte auch daran „erinnern, wie es wirklich war“.

Die frühere DDR-Bürgerechtlerin, die am 11. September im vorpommerschen Gehren in der Uckermarck ihrem Krebsleiden erlag, stand nur kurzzeitig im Licht der Öffentlichkeit. Aber es war eine für die Deutschen wichtige Zeit. Eine Bürgerbewegung schaffte es, die Herrschaft der Kommunisten zu stürzen und aus zwei deutschen Staaten einen zu machen. Bohley, die die Wiedervereinigung nicht beziehungsweise nicht auf diese Weise wollte, ist eine treibende Kraft dieses Prozesses gewesen.

Zwei Wochen nach Kriegsende in Berlin geboren, wächst sie in einer dem System distanziert gegenüberstehenden Familie auf. Sie kann Abitur machen und beginnt 24jährig ein Studium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, das sie 1974 mit einem Diplom als Malerin abschließt. Politisch aktiv wird die Pazifistin, als die SED Anfang der achtziger Jahre die Gesellschaft immer mehr militarisiert. Bohley gründet mit Gleichgesinnten die Initiativgruppe „Frauen für den Frieden“ und rüttelt so an einer der Grundfesten der Einheitspartei, die den „ersten Friedensstaat auf deutschem Boden“ geschaffen haben will. Wegen angeblicher „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung“, darunter verstand die Stasi Kontakte zu den westdeutschen Grünen, landet sie im Untersuchungsgefängnis. Nach ihrer Entlassung erhält die Malerin keine staatlichen Aufträge mehr und darf öffentlich nicht ausstellen.

Einschüchtern läßt sich Bohley dadurch nicht. Sie setzt sich für Meinungs- und Versammlungsfreiheit ein, gründet mit Gleichgesinnten die Initiative Frieden und Menschenrechte. 1988 wird sie erneut verhaftet und schließlich gegen ihren Willen mit einem Visum für Großbritannien nach Westdeutschland abgeschoben. Sechs Monate später kehrt sie zurück, und im September 1989 gehört sie zu den Erstunterzeichnern des Gründungsaufrufs für das Neue Forum „Die Zeit ist reif!“ Das nur illegal in der DDR verbreitete Papier trifft den Nerv der Menschen. Die Wut ist groß, nach den gefälschten Kommunalwahlen im Frühjahr und der Massenflucht über die ungarische Grenze im August. Mehr als 250.000 unterschreiben in kurzer Zeit.

Das Neue Forum vereint nicht nur die bis dahin aus unzähligen Grüppchen bestehende Opposition, sondern artikuliert die Wünsche der meisten DDR-Bürger. Die Kernzelle für eine mächtige Bürgerbewegung scheint geschaffen. Zu einer der Leitfiguren wird die schmächtige Malerin, die von ihrer einstigen Weggefährtin Vera Lengsfeld rückblickend als „Mutter der friedlichen Revolution“ bezeichnet wird.

Diese Opposition war aber vielschichtiger, als sie in Westdeutschland wahrgenommen wurde, und einig war sie sich nur in der Ablehnung des „real existierenden Sozialismus“. Auch war sie nicht die Stimme des Volkes. Die vom Neuen Forum ausgelösten Proteste werden erst zu einer tatsächlichen Bürgerbewegung, als mehr und mehr DDR-Bürger ihre Angst vor dem Unterdrückungsapparat verlieren und sich den Demonstrationen anschließen.

Im Gegensatz zu Bärbel Bohley und dem SED-kritischen Künstlermilieu will die Mehrheit der DDR-Bürger, die inzwischen die „friedliche Revolution“ trägt, keinen reformierten Sozialismus. Das Volk erkennt deutlicher als die Oppositionellen, wie klein das Zeitfenster für eine Wiedervereinigung angesichts sowjetischer Besatzungssoldaten ist. Auch sind da die Erfahrungen des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953. Schnell wird aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ die Forderung nach der Einheit: „Wir sind ein Volk.“

Ihre Enttäuschung über die Art und Weise der Wiedervereinigung, bei der kaum jemand Interesse an den Erfahrungen der DDR-Opposition hat, und die mangelhafte Aufarbeitung des DDR-Unrechts faßt Bohley später in dem Satz zusammen: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ Damit trifft sie die Empfindungen von Millionen Mitteldeutschen, die den milden Umgang der bundesdeutschen Justiz mit den SED-Tätern nicht verstehen.

Mit der Besetzung der Berliner Stasi-Zentrale unter dem Motto „Die Akten gehören uns!“ schreibt Bohley 1990 noch einmal Geschichte. Sie setzt das Recht auf Einsicht in die Akten des Geheimdienstes durch. Konsequent ist sie auch hier: Weil sich die evangelische Kirche nicht von stasibelasteten Pfarrern trennt, tritt sie 1991 aus.

Fünf Jahre später versucht Bundeskanzler Helmut Kohl, die Bürgerrechtlerin in die Politik zu holen. Vergebens. 1996 verläßt Bärbel Bohley, die sich politisch heimatlos fühlt und kein Zierat für Jahrestage sein will, Deutschland, um sich bei Hilfsprojekten im ehemaligen Jugoslawien zu engagieren. Erst 2008 kommt sie zurück. Da weiß sie, daß sie an Lungenkrebs erkrankt ist.

Die letzte Lebenszeit nutzt Bärbel Bohley zum Aktenstudium. Sie streitet wider Gedankenlosigkeit und Vergessen. Sie will herausfinden, wer an der Abschiebung der Bürgerrechtler 1988 beteiligt war. Und sie will die genaue Rolle ihres früheren Anwaltes Gregor Gysi klären, den sie nach dem Studium ihrer Stasi-Akten stets als inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter bezeichnet hatte. Die Zeit dafür sollte nicht reichen.

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