© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/10 17. September 2010

Sozialfälle statt Ingenieure
Zuwanderung: Angeblich fehlen bald drei Millionen Fachkräfte – ausländische Spezialisten meiden Deutschland
Christian Schwiesselmann

Zuwanderungsdebatten laufen stets nach demselben Muster ab: Wirtschaftsführer, Unternehmerverbände oder Chefvolkswirte beklagen den Fachkräfte- und Ingenieurmangel. Als Beleg werden Daten aus den haus­eigenen Instituten zitiert. Schließlich springen FDP-Politiker auf den Zug auf; manchmal auch CDU-Ministerpräsidenten. Der sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich hat diese Debattenmechanik offenbar genau studiert. Er setzte sie in der vergangenen Woche bewußt in Gang, als er in der Berliner Zeitung forderte, man müsse die Einwanderung forcieren. Argumente dafür liefern Ökonomen wie Klaus Zimmermann. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) prognostiziert für 2015 einen Fachkräftemangel von drei Millionen Arbeitnehmern.

Ingenieurmangel kostet drei Milliarden Euro

Die demographische Wende führe dazu, daß jedes Jahr 250.000 Fachkräfte vom Markt verschwinden. Deutschland müsse deshalb innerhalb der EU zum Motor werden für ein modernes Beschäftigungskonzept ohne überflüssige bürokratische Hemmnisse. Zimmermann setzt damit auf Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU und auf deren Richtlinie zur „Blue Card“, die ab 2011 die Aufnahme von Fachkräften aus Drittländern erleichtern soll.

Umfragen unter Unternehmen untermauern den Fachkräftebedarf. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag veröffentlichte im August die Ergebnisse einer Online-Befragung: Fast die Hälfte der Unternehmen erwartet in den kommenden fünf Jahren einen Fachkräftemangel. Gerade in den neuen Bundesländern – damit auch im Sachsen Tillichs – droht das Reservoir an Arbeitskräften auszutrocknen. 47 Prozent der dortigen Unternehmen berichten über Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung.

Alarmiert zeigt sich vor allem die mittelständische Wirtschaft. Ganze Branchen wie der Maschinenbau, die Automobil-, Metall- und Elektroindustrie suchen händeringend nach Nachwuchs. 34.000 Technikerstellen sind laut einer Studie des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) unbesetzt. Der Volkswirtschaft entgingen dadurch drei Milliarden Euro. Im August wuchs die Ingenieurlücke sogar weiter auf 39.000 Stellen an. VDI-Direktor Willi Fuchs ist sich sicher: „Der Rückgang der Gesamtarbeitslosigkeit liegt also hauptsächlich an dem vermehrten Wiedereintritt von Ingenieuren ins Erwerbsleben.“

Die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt betreffen in erster Linie Hochqualifizierte. Dem stehen drei Millionen Arbeitslose gegenüber, die zum Teil wenig qualifiziert sind und über keinen Berufsabschluß verfügen. Als Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) und Wirtschaftsvertreter im Sommer Lockprämien und Punktesysteme zur Anwerbung ausländischer Fachkräfte vorschlugen, verwiesen auch Politiker aus dem linken Lager auf das inländische Reserveheer an Langzeitarbeitslosen.

In der Fachwelt hat sich längst herumgesprochen, daß sich die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt bisher nicht ausgezahlt hat. Der Demograph Herwig Birg hatte bereits 2001 in einem Gutachten für das bayerische Innenministerium eine Kombination arbeitsmarkt- und familienpolitischer Alternativmaßnahmen angeregt: die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, den Stopp der Auswanderung deutscher Fachkräfte, eine Ausbildungsoffensive zur Höherqualifizierung und die Verringerung der regionalen Ungleichgewichte auf dem inländischen Arbeitsmarkt. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung stellte 2008 leichte negative Effekte der Migration auf den deutschen Arbeitsmarkt und das Lohngefüge der deutschen Bevölkerung fest. Im Bereich der Geringqualifizierten ist die Lohnkonkurrenz von außen sogar noch stärker zu spüren. Letztlich ist es die Bundesintegrationsbeauftragte Maria Böhmer (CDU) selbst, die immer wieder Zahlenmaterial zur fehlgeschlagenen Integration in den Arbeitsmarkt vorlegt. Zwar stieg die Zahl der Ausländer in Deutschland zwischen 1971 und 2000 von drei auf 7,5 Millionen an, aber die Zahl der erwerbstätigen Ausländer hat sich kaum erhöht.

Zuwanderung geht bislang meist in die Sozialsysteme

Der 8. Bericht „über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland“ vom Juni 2010 konstatiert für das Jahr 2009 eine mehr als doppelt so hohe Arbeitslosigkeit bei Ausländern (19,1 Prozent) im Vergleich mit Deutschen (8,3 Prozent). Hauptursache ist ein Mangel an beruflicher Qualifikation. Nach wie vor sind die meisten Einwanderer nach Deutschland schlecht ausgebildet, der deutschen Sprache nicht mächtig und daher kaum auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar. Dabei kann die Sogwirkung des Sozialstaates nicht unterschätzt werden: Der Präsident des Ifo-Instituts in München, Hans-Werner Sinn, sprach nicht grundlos von einem „Zuwanderungsmagneten“.

Unausgesprochen unterscheiden die Ökonomen damit zwischen „guter“ Zuwanderung von Hochqualifizierten, die den Wohlstand in Deutschland mehren, und „schlechter“ Zuwanderung Geringqualifizierter. Alle Initiativen früherer Bundesregierungen, beispielsweise die Einwanderung von IT-Spezialisten durch die Vergabe von „Green Cards“ zu erleichtern, sind faktisch gescheitert. Statt Ingenieuren kommen meist „Sozialfälle“ – über Asylbegehren oder Familiennachzug.

Innerhalb der jetzigen Bundesregierung setzt gegenwärtig noch die CSU Stoppzeichen gegen neue Anwerbungskampagnen. CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt polterte in Richtung Wirtschaft: „Der deutsche Arbeitsmarkt hat kein Zuzugsdefizit, sondern ein Qualifizierungsdefizit.“ Freilich ist das letzte Wort nicht gesprochen. Die Debatte folgt dem Gesetz der ewigen Wiederkehr des Gleichen.

Foto. Kaputtes Zahnradsystem: Über Asylverfahren und Familiennachzug kommen in der Regel keine Fachkräfte

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