© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/10 17. September 2010

Was man nicht sagen darf
Der „Fall Steinbach“ zeigt, wie eng der Spielraum der Meinungsfreiheit in Deutschland immer noch ist
Thorsten Hinz

Auch trostlose Episoden können erhellend wirken. Trostlos ist die Kampagne, die gegen die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV) Erika Steinbach, geführt wird. Frau Steinbach hatte in einer nichtöffentlichen Sitzung des Fraktionsvorstandes von CDU/CSU geäußert, Polen habe im März 1939 zuerst mobil gemacht. Ein Satz, der unbestreitbar ist und weitere historische Sachverhalte impliziert: Der polnische Staat der Zwischenkriegszeit hatte einen reichlich aggressiven Charakter. Unter anderem beraubte, vertrieb und drangsalierte er die deutsche Minderheit, wohl wissend, den deutschen Diktator damit bis aufs Blut zu reizen. In den publizierten Akten des Auswärtigen Amtes, die sich auch in der Bundestagsbibliothek befinden, kann man das leicht nachlesen.

Ihre Tatsachenfeststellung soll im Fraktionsvorstand für „Empörung“ gesorgt haben, die von der umgehend in Kenntnis gesetzten Presse zum „Eklat“ hochmultipliziert wurde. Die Empörung der Politiker und Journalisten ist ein freches Insistieren auf der eigenen historischen Unbildung. Die Steinbach-Affäre belehrt uns darüber, daß die historische Wahrheit in der Bundesrepublik vor allem eine politische Wahrheit ist, das heißt, um als wahr zu gelten, muß die Aussage über einen geschichtlichen Sachverhalt politisch genehm sein. Das bedeutet im Bedarfsfall, daß eine Lüge zur Wahrheit und die Wahrheit zur Lüge erklärt wird. Wer diese Umkehrung nicht mitvollziehen kann und will, wird von Politikern und Medienmachern in Acht und Bann getan.

Mit ihrem Rückzug aus dem CDU-Vorstand beendet Erika Steinbach von sich aus eine lange Periode der Demütigungen, die sie mit Engelsgeduld ertragen hat, um das Zentrum gegen Vertreibungen, ihr Herzensanliegen, zu verwirklichen. Am Ende mußte sie einsehen, daß die politische Klasse – ihre eigene Partei eingeschlossen – das Zentrum entweder gar nicht oder nur unter dem Vorzeichen eines klebrigen Schuld-Protestantismus errichten will. Mit ihrer entschiedenen Wortmeldung hat sie die CDU-Führung zum Offenbarungseid gezwungen. Die Vertriebenen stellen keinen Machtfaktor und kein relevantes Wählerpotential mehr dar. Ein geschichtliches und kulturelles Ferngedächtnis, das über das Dritte Reich hinausreicht, ein Gefühl von Trauer gar um das Verlorene, ist von dieser politischen Klasse sowieso nicht zu erwarten.

Mit der Union hat nun die letzte der etablierten Parteien in einer zentralen geschichtspolitischen Frage die Positionen der SED übernommen. Das wiegt um so schwerer, weil in Deutschland mehr als anderswo das Geschichtsbild die Real- und Gesellschaftspolitik definiert. Der ideologische Sieg der SED hängt ironischerweiser damit zusammen, daß die staatliche Einheit als Anschluß der DDR an die BRD vollzogen wurde und nicht als gesamtdeutscher Neubeginn. Daraus hat sich eine für Deutschland gefährliche Dialektik entwickelt.

Jahrzehntelang hatte der Kalte Krieg die nationalpolitischen Gemeinsamkeiten der zwei deutschen Nachkriegsstaaten überlagert und verdeckt, die beide unter doppelter Vormundschaft standen: unter der Vormundschaft einer antifaschistischen, blockübergreifenden Geschichtserzählung, deren Kernstück der Sieg über Deutschland und eine absolute Kriegschuldtheorie bildete, und der ihrer jeweiligen Vormächte. Die DDR, die sich als Platzhalter einer neuartigen, sozialistischen deutschen Nation verstand, konnte die Geschichtserzählung ohne Schwierigkeiten in ihr antifaschistisches Selbstverständnis aufnehmen. Für die Bundesrepublik hätte das jedoch den moralischen Zusammenbruch vor der Sowjetunion bedeutet, an dem weder sie noch ihre Verbündeten interessiert waren. Es ergab sich ein eigentümlicher Schwebezustand. Zwar erklärte der Staatsrechtler Theodor Eschenburg frühzeitig die Alleinschuld-These zur geistig-moralischen Grundlage der Bundesrepublik und wurde die negative Geschichtserzählung in einen mit Selbstanklagen durchsetzten Schuld-Protestantismus transformiert, andererseits konnte der Total-Verdammung Deutschlands widersprochen werden und durften die Vertriebenen – vom Osten dafür als Revanchisten und Faschisten beschimpft – auf ihr erlittenes Unrecht aufmerksam machen.

Um ein innerlich souveränes Gesamtdeutschland herzustellen, hätten beide deutsche Staaten sich über die unterschiedlichen Formen ihrer politischen, geistigen und moralischen Unterwürfigkeit klarwerden und austauschen müssen, um dann gemeinsam in eine Katharsis einzutreten. Stattdessen empfahl die verdruckste Bundesrepublik sich als Erfolgsmodell, dem die DDR sich voll und ganz anzuschließen hatte. Weil sie mit dem Wegfall des Ost-West-Konflikts aber die Selbsterhaltungsenergien einbüßte, die der sowjetischen Bedrohung getrotzt und die Auswirkungen der antifaschistischen Ideologie begrenzt hatten, konnte das Virus aus der ideologischen DDR-Hinterlassenschaft sich ungehindert in ihrem Blutkreislauf ausbreiten und kann die Linkspartei inzwischen auch die Union nach Belieben vor sich herscheuchen. Die Unkenntnis bzw. das Verdrängen geschichtlicher Tatsachen und Zusammenhänge ist also nicht nur ein subjektives Versagen der politischen und medialen Klasse, sondern ein Strukturproblem, das in der unvollkommenen bundesdeutschen Staatlichkeit verankert ist.

Auf dieser schiefen Grundlage wird die Politik zum Tummelplatz für Charaktere, deren Wertigkeit sich bereits habituell und physiognomisch mitteilt. Dazu muß man Frau Steinbach auf einem Jahresempfang des BdV gesehen haben, wie sie sich aufrecht, stolz, klar konturiert und natürliche Autorität ausstrahlend durch das Publikum bewegt, jeder Zoll an ihr eine Offizierstochter. Dagegen dann die vergnomten, lauernden, verwaschen-amorphen Vertreter der informellen Blockparteien. Frau Steinbach muß sich in der Politik schon lange sehr einsam gefühlt haben.

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