© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

Wissenschaftler widerrufen plötzlich ihre eigenen Thesen
Der Genetiker und Genealoge Volkmar Weiss über das Sarrazin-Buch und dessen Thesen über die Vererbbarkeit von Intelligenz
Matthias Bäkermann

Herr Dr. Weiss, Sie haben 1999 das Buch „Die IQ-Falle“ geschrieben, daß sich mit der Vererbbarkeit von Intelligenz auseinandersetzt. Thilo Sarrazin hat sich in seinem jüngsten Buch auch auf Ihre Forschungen bezogen und steht nicht zuletzt wegen seiner darauf aufbauenden Thesen in der Kritik.

Weiss: Seit rund vierzig Jahren ist die Thematik, die Sarrazin aufgreift, in Deutschland tabu. Als ich 1999 für das druckreife Manuskript „Intelligenz, Sozialstruktur und Politik“ einen bundesdeutschen Verlag suchte, wagte keiner die Drucklegung. Ich möchte doch bitte Verständnis für die Absage haben, „weil ein geschäftsschädigender Sturm der Entrüstung zu befürchten“ sei, schrieb mir der Cheflektor eines großen Münchner Verlagshauses. Unter anderem Titel ist das Buch dann doch verlegt worden, allerdings in Österreich.

Bei der Bundeswehr kursierte der Spott „Vater doof, Mutter doof – Sohn Unteroffizier!“ Kann man der Vererbung von Intelligenz tatsächlich eine überdurchschnittliche Signifikanz zusprechen?

Weiss: In der Diskussion kursieren schnell irgendwelche Prozentwerte, die jedoch angreifbar sind. Wenn Sie jemanden beispielsweise von allen sozialen Kontakten abschneiden (Kaspar-Hauser-Syndrom), wird seine Intelligenz auch in Richtung 0 gehen, obwohl die vererbten Voraussetzungen andere sind.

Das sagt auch die Züricher Intelligenzforscherin Elsbeth Stern, die grundsätzlich diese Prozentzahlen ablehnt und einfach von „Erblichkeit von Intelligenzunterschieden“ spricht. Stattdessen hebt Frau Stern darauf ab, daß die „Leistungsgerechtigkeit einer Gesellschaft“ entscheidend ist, damit „das in den Genen angelegte Potential für die Intelligenzentwicklung“ richtig genutzt wird.

Weiss: Man kann dennoch zu einer zahlenmäßigen Aussage gelangen. Verschiedenste Faktoren wie soziale Schicht oder unterschiedliche Region wirken sich darauf aus. Aber bei normaler Schulbildung in einem Industriestaat wird der Mittelwert zwischen 40 bis 80 Prozent Vererbbarkeit angesetzt. Bei Frau Stern deutet das Widerrufen ihrer eigenen Thesen auf die Angst des noch aktiven Wissenschaftlers vor schwerwiegenden Folgen hin. So komplex, wie das Thema nun mit dem Sarrazin-Buch in die Diskussion drängt, kann kein Wissenschaftler auf einem Lehrstuhl für Psychologie, Soziologie, Genetik oder Politik uneingeschränkt positiv zu Sarrazin stehen. Wenn überhaupt, äußern sich in diesem Sinne nur Wissenschaftler ohne weitere Karrierehoffnungen kurz vor der Pensionsgrenze. Der Diskurs ist vollkommen ideologisiert worden.

Sie meinen den Vorwurf, er argumentiere biologistisch oder gar rassistisch? 

Weiss: Wer wie Sarrazin die sozialen und biologischen Faktoren zueinander in Beziehung setzt und gar von der Vererbung der Intelligenz, des IQ, zu schreiben wagt, dem droht die Ächtung. Seine Gegner werden nichts unversucht lassen, ihn nun unablässig in eine rechtsextremistische Ecke abzudrängen. Das Phänomen gilt übrigens nicht nur für Deutschland, sondern in allen Industriestaaten. Sarrazins Ausführungen in seinem Kapitel „Bildung und Gerechtigkeit“ über die Soziale Mobilität übertreffen in Sachverstand und Analyse all das, was die etablierte Soziologie, eingezäumt durch die Denkschablonen der egalitären Ideologie, heutzutage für richtig hält.

Tatsächlich greift Frank Schirrmacher Sarrazins These als „unerhört“, „unseriös“ und „vulgärdarwinistisch“ an, mit der Einwanderung weniger intelligenter Migranten werde „eine negative Selektion gesteuert, die den einzigen nachwachsenden Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich Intelligenz, relativ und absolut in hohem Tempo vermindert“. Kann man individuelle Intelligenz überhaupt auf Gesellschaften „hochrechnen“?

Weiss: Ausgerechnet die Pisa-Studie liefert hier interessante Ansatzpunkte, die über die Betrachtung des jeweiligen Erfolgs des Schulsystems hinausgehen. Doch in den meisten OECD-Ländern wurden seit vielen Jahrzehnten auch Messungen des Intelligenzquotienten durchgeführt, die in erstaunlicher Weise mit den gegenwärtigen Pisa-Ergebnissen übereinstimmen. Der Intelligenzquotient wird genetisch beeinflußt – es gibt Hunderte oder gar Tausende Gene, die die Intelligenz des Menschen mittelbar beeinflussen,  ein Hauptgen wurde bislang jedoch noch nicht gefunden. Nun ist es so, daß es nachweisbar ein Abfallen des durchschnittlichen IQ in einigen Ländern seit zehn, zwanzig Jahren gibt. Dies gilt auch für Deutschland, wo der Wert von 102 auf 98 gesunken ist. Der IQ-Wert ist seit jeher auf Großbritannien normiert (GB=100), dort aber ist auch ein Absinken des IQ wegen der gleichen Ursachen wie in den Industriestaaten mit meßbaren IQ-Rückgang zu vermuten. Das ließe den Abfalleffekt für Deutschland in den letzten Jahrzehnten sogar noch stärker ausfallen.

 

Dr. rer. nat. habil. Dr. phil habil. Volkmar Weiss (geboren 1944 in Zwickau) ist Genetiker, Sozialhistoriker und Genealoge. 1969 begann er mit der Erforschung des sozialen Hintergrunds der Mathematik-Hochbegabten der DDR und arbeitete in der Abteilung Soziologie der Akademie der Wissenschaften. Von 1990 bis zu seiner Pensionierung 2007 war er Leiter der Deutschen Zentralstelle für Genealogie in Leipzig.

Seine Analyse „Der IQ der Völker laut Pisa-Studien“ ist unter http://knol.google.com abrufbar.

 

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