© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

Verloren im Schwarzen Reich
Frank Jacob nähert sich der okkulten Thule-Gesellschaft und ihrem Einfluß auf den frühen Nationalsozialismus
Daniel Napiorkowski

Steter Tropfen höhlt bekanntlich den Stein. Dies gilt wohl auch für Verschwörungstheorien. Seit Jahrzehnten schon erscheinen mit schöner Regelmäßigkeit Bücher, die den Aufstieg des Nationalsozialismus im Zusammenhang mit okkulten Mächten sehen wollen. Populär wurde die These 1960 mit dem Bestseller „Aufbruch ins dritte Jahrtausend“ von Louis Pauwels und Jacques Bergier, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde. 1994 erschien das 900 Seiten starke, ebenfalls recht erfolgreiche „Schwarze Reich“ von E. R. Carmin, der die These von der Thule-Gesellschaft als zentraler okkulter Organisation des Nationalsozialismus festigte. Dazwischen liegen die mehr oder minder abstrusen Verschwörungstheorien ungezählter pseudohistorischer Sachbücher und Romane.

Erst 1994 brachten zwei Arbeiten Licht in das mythenumwobene Dunkel der Thule-Gesellschaft: „Die Thule-Gesellschaft: Legende, Mythos, Wirklichkeit“ von Detlev Rose und „Die Thule-Gesellschaft. Vom okkulten Mummenschanz zum Hakenkreuz“ von Hermann Gilbhard, das trotz seines tendenziösen Titels weitgehend sachlich ist. Das ausgezeichnete Werk Nicholas Goodrick-Clarke über „Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus“ (1985) widmet sich der Thule-Gesellschaft nur peripher.

Beide Autoren, Rose und Gilbhard, untersuchen die politische und organisatorische Bedeutung der Thule-Gesellschaft für den Nationalsozialismus und kommen zu einem ähnlichen Ergebnis: Von personellen Verstrickungen einzelner NS-Größen und der Überschneidung politischer Ziele abgesehen hatten Thule-Gesellschaft und die NSDAP und deren Vorläuferin, die Deutsche Arbeiterpartei, nicht viel gemein. Vielmehr bestand das eigentliche Anliegen der Gesellschaft, die niemals mehr als einige wenige hundert Mitglieder hatte und 1925 mangels personeller Unterstützung aufgelöst wurde, in der Beseitigung der Münchener Räterepublik. Zwar geht Gilbhard von einer etwas größeren Vorreiterrolle der Organisation aus; jedenfalls herrscht Einigkeit dahingehend, daß von einem okkulten Treiben in der Thule-Gesellschaft, geschweige denn von etwaigen okkulten Einflüssen auf die NSDAP keine Rede sein kann.

Auch Frank Jacob widmet sich in seiner Magisterarbeit von 2009, die nun veröffentlicht wurde, der Thule-Gesellschaft – mit dem gleichen Ergebnis, dafür mit weniger Sorgfalt. Denn neben dem Mangel eines gründlichen Lektorats, einem schmerzlich vermißten Personenverzeichnis und einer Sprache, die, gelinde ausgedrückt, noch nicht ganz ausgereift ist – umgangssprachliche Stilblüten wie „keinste“ haben in einer wissenschaftlichen Arbeit nichts zu suchen –, leidet das Werk vor allem an zahlreichen Ungenauigkeiten.

Die Masse von 843 Fußnoten auf nur 135 Seiten Text mögen noch als Ausdruck einer typisch jungakademischen Unsicherheit durchgehen; es überrascht hingegen, daß bei diesem Berg an Quellenangaben an keiner Stelle etwa die These belegt wird, der Gründer der Thule-Gesellschaft Rudolf von Sebottendorff habe Deutschland 1934 verlassen müssen oder – wie es Jacob ausdrückt – man ihn „unter Androhung von Strafen“ gezwungen habe, das Land zu verlassen. Mehrmals spricht Jacob von einem unfreiwilligen Verlassen – daß Sebottendorff Deutschland verlassen hat, ist unstreitig –, wobei er lediglich einmal auf Goodrick-Clarke verweist, der an der entsprechenden Stelle allerdings keine solche Behauptung aufstellt.

Überhaupt fallen immer wieder Kleinigkeiten auf, die nicht richtig oder zumindest mißverständlich formuliert sind. Mehrmals ist von einer „völkischen Bewegung“ die Rede; was damit genau gemeint ist, bleibt dem Leser, der hierüber im Unklaren ist, verschlossen. Der Zeitschrift Der Hammer des antisemitischen Germanenordens wird ein „weiter Leserkreis“ bescheinigt, ohne konkrete Angaben zur Auflage oder zur Reichweite zu machen. Die pseudohistorischen Theorien diverser Verschwörungstheoretiker werden zu Recht als „lächerlich“ bezeichnet. Nichtsdestotrotz läßt Jacob es sich nicht nehmen, etwa einzelne Aspekte aus Carmins „Schwarzem Reich“ immer wieder historisch zu widerlegen.

Detlev Roses Abhandlung über die Thule-Gesellschaft ist auch nicht „Ende der 1990er Jahre“ erschienen, sondern 1994. Weiter heißt es über Roses Buch, diesmal zutreffend, daß es in einem Verlag erschienen ist, „der eher dem rechten Spektrum nahesteht“ (gemeint ist der Grabert-Verlag). Hieraus schließt Jacob sogleich, daß es „trotz der durchaus wissenschaftlichen Arbeitsweise, möglicherweise politisch motiviert war“ – ohne allerdings entsprechende Anhaltspunkte zu liefern. Bei Literatur aus linken Verlagen oder von linken Autoren – etwa „Die Sprache des Hasses. Rechtsextremismus und völkische Esoterik“ des Autorenduos Friedrich Paul Heller und Anton Maegerle – werden natürlich keine entsprechenden Vorbehalte ausgesprochen.

Inhaltlich bildet die Abhandlung nur eine Wiedergabe des gegenwärtigen Forschungsstandes, wobei rätselhaft bleibt, weswegen die 2008 erschienene dritte, nunmehr erweiterte Auflage von Roses „Thule-Gesellschaft“ keine Berücksichtigung mehr fand, Jacobs Vorwort ist aus dem Januar 2010. Man sollte also nichts Neues erwarten: Der Autor folgt überwiegend Roses Arbeitsweise, den Einfluß der Thule-Gesellschaft auf die NSDAP anhand einer Untersuchung der personellen und organisatorischen Kontinuitäten zu überprüfen, tendiert im Ergebnis aber zu Gilbhard, der die Bedeutung der Thule-Gesellschaft höher ansetzt. Wenn Jacob die Arbeit Gilbhards für präzisionsbedürftig und diejenige Roses für „nicht zufriedenstellend“ hält, so trifft auf sein Werk beides zu.

Frank Jacob: Die Thule-Gesellschaft. Uni-Edition, Berlin 2010, broschiert, 168 Seiten, 24,90 Euro

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