© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

Sie nennen es Arbeit
Marktlücke: „Zarte Parasiten“ spielt mit den Sehnsüchten nach Geborgenheit
Harald Harzheim

Morgens, im Wald: Manu schläft noch, als ihr eine Schnecke über die Nase kriecht. Vorsichtig, sehr vorsichtig entfernt Jakob das Tier. Ein Bild der Zärtlichkeit, mit dem der Film um „Zarte Parasiten“ beginnt. Er erzählt die Geschichte eines jungen Paares, das sich im Wald ein neoromantisches Bettenlager errichtet hat, die tägliche Körperpflege in der Hallenbad-Dusche verrichtet und einem höchst eigenwilligen Gelderwerb nachgeht.

So pflegt Manu (Maja Schöne) nicht nur die alte wie einsame Frau Katz, sondern bietet ihr auch Familienersatz, läßt sich mit ihr fotografieren – wie eine anhängliche Tochter. Manchmal bringt sie sogar Jakob mit, liebt ihn im Nebenzimmer, damit Frau Katz vom Bett aus mithören (und mitträumen) kann. Die hatte zuvor gestanden, daß ihre Seele noch voller Sehnsucht sei, der Körper aber Abschied nehme.

Jakob hingegen versucht es bei den „Reichen“. Bei dem Ex-Manager Martin (Sylvester Groth) beispielsweise, der sich seit dem Tod seines Sohnes zurückgezogen hat. Dem lauert Jakob auf, in dessen Villa zieht er ein und inszeniert sich als Sohnersatz. Er spielt mit elementaren Emotionen und bezeichnet das als „Arbeit“. Nur, bald verliert Jakob die nötige Distanz. Eigene Sehnsüchte nach Geborgenheit werden durch die „Gastfamilie“ geweckt. Als er versehentlich das T-Shirt des verstorbenen Sohnes anzieht, fliegt ihm sein mentales Dienstleistungs-Projekt um die Ohren. Das Geschäft mit unbewältigten Wunden riß eigene Verdrängung auf und die Beziehung zu Manu droht deshalb zu scheitern.

Der Titel „Zarte Parasiten“ weckt Assoziationen zu sozialen Schimpfwörtern wie „Schmarotzer“ (mag das Attribut „zart“ auch für Abschwächung sorgen). Aber Christian Beckers und Oliver Schwabes Film ruft nicht zum Klassenkampf auf, zieht gegen keine Lebensform zu Felde, weder gegen Reiche noch gegen Arme.

Wie in ihrem Erstling „Egoshooter“ halten sich beide Regisseure in Sachen Wertung angenehm bedeckt. „Zarte Parasiten“ reitet auch nicht auf sentimentalem Effekt, verzichtet auf Mitleid oder Apathie. Anstelle emotionaler Lenkung präsentiert er ungeschminkte Gesichter, versenkt die hochbewegliche Kamera mitten ins Geschehen, wirkt streckenweise wie ein dokumentarischer Griff ins reale Leben. Er läßt uns teilhaben am Überlebenskampf junger Menschen und an der Suche altgewordener Menschen nach hoffnungslos Vergangenem, Unersetzbarem. Das Postulat von der Ersetzbarkeit des einzelnen erweist sich dabei als Lüge.

Was Becker und Schwabe anläßlich ihres Debütfilms bekannten – „Unser Konzept hieß, jemandem beim Leben ohne große Ereignisse zuzuschauen. Deswegen kriegt man nicht ‘bigger than life’, sondern ‘normal life’.“ – das gilt auch hier. Sogar die Scham des Zuschauers vor der Skrupellosigkeit des Dienstleister-Paares schwindet bald: Denn ließen sie von ihrem Gewerbe ab, wäre den „Kunden“ damit geholfen? Was bleibt der alten Frau, dem Ex-Manager denn übrig? Wäre völliger Verzicht nicht schlimmer als ein mäßiger Ersatz?

So besteht trotz des „unmöglichen“ Handels ein geheimes Einverständnis zwischen Anbieter und Abnehmer: Als Jakob gegen Ende seinen Ex-Kunden Martin wiedertrifft, ist man sich – trotz vorheriger Eskalation – keineswegs böse. Das einzige, was Martin wissen will: ob Jakob die Zweisamkeit „nur als Job“ empfunden habe. Nein, antwortet der, es sei viel mehr gewesen … Die gleiche Hoffnung, die jeder Freier gegenüber „seiner“ Prostituierten hegt: daß es ihr mehr war als nur ein Job. Bei den „zarten Parasiten“ ist diese Hoffnung nicht ganz illusorisch.

Das Motiv der Waldkinder entstammt dem romantischen Literatur- und Märchenfundus. Aber anders als das verträumte Paar in Ludwig Tiecks „Des Lebens Überfluß“ (1937) sind die „zarten Parasiten“ sich selber keineswegs genug, schlafen nur nachts im Wald, um tagsüber in den Lücken und Leerräumen der Ratiogesellschaft obskure Geldquellen anzubohren. Ihre Zweisamkeit ist bedroht von dem Wunsch, sich wieder einzugliedern. Die Uraufführung der „Zarten Parasiten“ fand im vergangenen Jahr, auf dem Filmfestival in Venedig statt – in der Sektion „Orizzonti“, einer Plattform zur Entwicklung neuer Filmsprachen und Erzählformen. Dort, wo man das Kino nicht zum puren emotionalen Dienstleister degradiert.

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