© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

Die Krise in den Köpfen
Angst vor Veränderungen: Die Sarrazin-Debatte und der Klüngel der Verantwortungslosen
Thorsten Hinz

Die Reaktion der Funktioneliten aus Politik und Medien auf das Buch Thilo Sarrazins zeigt, daß von ihnen nichts zu erwarten ist, was die Abschaffung Deutschlands verhindert. Es besteht nicht einfach nur ein Graben zwischen ihnen und dem Demos, es gibt eine fundamental andere Wahrnehmung und Weltsicht, die mit einer unterschiedlichen Interessenlage korrespondiert.

Gerade hat eine neue Untersuchung ergeben, daß Berlin trotz überproportionaler Bildungsausgaben die im Durchschnitt dümmsten Grundschüler Deutschlands aufweist und sich der Bildungsgrad weiter im freien Fall befindet. In dieser Situation beschäftigt die SPD, die hier seit immerhin zwanzig Jahren den Bildungssenator stellt, sich hauptsächlich mit dem Parteiausschluß eines Mannes, der eben dieser Entwicklung auf den Grund geht und auf die ungünstige Struktur der Zuwanderer als eine der Ursachen aufmerksam macht.

Politische Führung und Meinungsmacher sind praktisch, aber auch verbal am Ende. Selbst Ahnungslosen schwant, daß hinter ihrem Verdrängen und Beschweigen keine tiefere Einsicht, kein Geheimwissen oder Geheimplan steckt, den man besser für sich behält, um ihn desto effizienter umzusetzen. Die Funktionseliten haben tatsächlich zu den Problemen nichts zu sagen. Das betrifft sämtliche etablierte Parteien, die – mit der DDR mehr und mehr vergleichbar – eine Einheitspartei bilden. Nur waren sie dort offiziell in einer „Nationalen Front“ zusammengeschlossen, während sie sich heute in einer informellen antinationalen Front zusammenfinden. Es eint sie das Interesse am Selbsterhalt, und der erfordert, die Benennung dessen zu verhindern, was sie durch ihr Tun und Lassen gerade auch in der Ausländerpolitik angerichtet haben. Andernfalls würde sich die Frage nach ihrer Legitimation und ihrer Verantwortlichkeit stellen. Verantwortung heißt, mit den Ergebnissen seines Handelns konfrontiert und für sie haftbar gemacht zu werden. Genau das fürchten sie wie der Teufel das Weihwasser.

Aus dieser Furcht erklärt sich ihre ungeheure Aggressivität gegen den Buchautor, die sich bis zum Vernichtungsfuror steigerte. Die meisten Politiker, Journalisten, Lobbyvertreter und sogenannte Experten arbeiteten Hand in Hand. Die wenigen Protestierer, die sich anläßlich der Buchvorstellung am 30. August vor der Bundespressekonferenz aufbauten, waren den Fernsehnachrichten eine Meldung wert – offenbar als Aufforderung zu einem noch breiteren zivilgesellschaftlichen Engagement.

In der Frankfurter Rundschau kam der Rezensent Arno Widmann zu dem Schluß, Sarrazin sei de facto geisteskrank und kriminell. „Wer sein Buch liest, der denkt an ‘Volksverhetzung’, an den Paragraphen 130 des Strafgesetzbuches.“ Der Denunziant und Büttel als die höchste und letzte Entwicklungsstufe des linksliberalen BRD-Journalisten – auch das belegt die von Sarrazin diagnostizierte Degenerierung der Gesellschaft! Der Berliner Tagesspiegel gab, als Reportage getarnt, eine recht präzise Beschreibung der Wohngegend Sarrazins, als Wegweisung gewissermaßen für die Autonomen- SA – und als Beleg für ein jederzeit aktivierbares Bündnis zwischen Elite und Mob. Inzwischen steht der Mann unter Personenschutz.

Vor über vierzig Jahren analysierte Arnold Gehlen die Vorherrschaft der linken Intellektuellen in der Sphäre der Öffentlichkeit. Vom Praxisbezug und von jeder Verantwortlichkeit freigestellt, müßten sie auf den Konflikt zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik keine Rücksicht nehmen und könnten ihr humanitaristisches Ethos – die Übertragung der Familienmoral auf die Menschheit – ausleben, indem sie Anklage erhöben: gegen den Staat, die stumpfe Masse, den autoritären Charakter, den Weißen Mann, den Ewigen Nazi, den Ausländerfeind.

Gehlen rechnete diesem Intellektuellen-Typus die Schriftsteller, Journalisten, Theologen, Philosophen, Soziologen, Lehrer, Studenten zu. Er unterschied sie deutlich von den Politikern, Richtern, Anwälten, Volkswirtschaftlern, die in Staat, Verwaltung und Wirtschaft tätig und kraft ihres Amtes zum verantwortlichen und realistischen Handeln gezwungen waren.

Doch diese Grenze sollte durch das Einsickern studentenbewegter Aktivisten in die Parteien – zunächst in die SPD – bald verwischt werden. Helmut Schmidt schimpfte in Richtung Jusos und SPD Linke, statt mit der Wirtschaftskrise beschäftigten sie sich nur mit der Krise in ihren Köpfen. Heute stellt dieser Typus einen großen Teil der politischen Klasse, ergänzt – von Ausnahmen abgesehen – durch haltlose Karrieristen, die sich ihnen anverwandeln.

Als Brandbeschleuniger erwiesen sich die Grünen, wo sich catilinarische Existenzen ohne bürgerlichen Hintergrund, Berufserfahrung und -abschlüsse, aber mit klarer ideologischer Ausrichtung, in den Vordergrund spielten und sogar zu Ministerwürden kamen. Diese veränderte Qualität der politischen Klasse und ihr osmotisches Verhältnis zur verantwortungsfreien Intellektuellen-Szenerie macht die Eroberung des Staates durch sie so gefährlich. Sie löst sich nicht mehr nur von der Wirklichkeit, sie schafft sie mit staatlichen Machtmitteln ab: durch Sprach- und Medienpolitik, durch Strafgesetze, die ganze Wirklichkeitsbereiche tabuisiert, durch informelle Zwänge, durch die Finanzierung obskurer Wissenschaftszweige und Vereine, die sich als vorstaatliche Spitzeldienste betätigen.

Seit einiger Zeit geistert durch die Medien die Idee, durch eine Art GEZ-Gebühr oder durch eine staatliche Stiftung der sogenannten Qualitätspresse einen Bestandsschutz zu gewähren. Damit wäre das osmotische Verhältnis zwischen den verschiedenen Gruppen der Funktionseliten institutionalisiert. Es ist nur natürlich, daß diese sich in Frage gestellt und angegriffen fühlen, wenn die Ergebnisse ihrer Herrschaft ungeschminkt und unkontrolliert benannt werden. Erneut ist ein Rückblick auf die DDR aufschlußreich. Er zeigt, daß Politiker, staatsnahe Journalisten und Intellektuelle in der Regel die letzten sind, die sich zu einem neuen Denken bereit finden. Denn neben ihrer materiellen und gesellschaftlichen Existenz hängt ihr ganzes Selbstwertgefühl am Bestehenden.

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