© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

Pankraz,
Michel Serres und der Parasit im Wirtshaus

Vorige Woche feierte der französische Philosoph Michel Serres, ein zwar einfallsreicher, doch leider auch recht undisziplinierter Geist, seinen achtzigsten Geburtstag. Pankraz, der gerade „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin las, fischte sich aus diesem Anlaß Serres’ Buch von 1980 „Der Parasit“ aus dem Regal, weil er nachsehen wollte, ob es irgendwie mit den Thesen von Sarrazin in Verbindung zu bringen wäre. Tatsächlich bereitete die Neulektüre ziemlich blümerante Gefühle, lehrte aber durchaus auch, gewisse aktuelle Entwicklungen in schärferem Licht zu sehen.

Leben lebt von Leben, argumentiert Serres, es ist ein fortwährendes Fressen und Gefressenwerden, und die wirkkräftigste Formation der Fresser seien die Parasiten. Im allgemeinen versteht man ja unter Fresser den momentan Stärkeren, welcher das Freßopfer tötet, es in unlebendige Stofflichkeit verwandelt und sich diese Stofflichkeit einverleibt. Doch diese Art des Voneinanderlebens ist, sagt Serres, keineswegs die dominierende.

Dominierend sei vielmehr der Parasitismus, wo also der Schwächere den Stärkeren auffrißt, indem er sich hinterrücks an dessen Stoffwechselsystem anschließt und seinen „Wirt“ allmählich aussaugt, ohne ihn zu töten. Denn stirbt der „Wirt“, stirbt oft auch der „Gast“. Der Parasitismus ist also eine Tötung auf Zeit. Natürlich stirbt der „Wirt“ eines Tages tatsächlich, aber er findet bis dahin Zeit, Strategien der Abwehr zu entwickeln, wenn nicht für sich selbst, so zumindest für seine Nachkommen, seinen Stamm, seine Art. Und die entscheidende einschlägige Strategie ist die Sexualität – das ist die Superpointe in dem Buch von Michel Serres.

Der Parasit ist in faktisch allen Fällen im Vergleich zu seinem Opfer das kleinere, auch „weniger entwickelte“ Lebewesen, die „Minderheit“, mit der man spontan Mitleid hat und deren „Rechte“ es zu stärken gilt. So klein ist er am Anfang, daß das Opfer, auch wenn es bereits über einen hochsensiblen sinnlichen Merkapparat verfügt, den Befall durch den Parasiten gar nicht bemerkt, das heißt seine Sinne registrieren ihn nicht, registrieren nur allmählich die Symptome des parasitären Ausgesaugtwerdens, und dann ist es für ein Überleben meistens bereits zu spät.

Der Parasit seinerseits gebietet in der Regel über ein zwar wirksames, aber doch ebenso primitives, wenig elastisches Ausbeutungsprogramm, und seine Willigkeit, sich auf „Wirtsverhältnisse“ einzustellen, sich dem „Wirt“ wirklich anzupassen, ist gering. Für den befallenen „Wirt“ kommt es deshalb darauf an, dem Parasiten gleichsam zeitlich davonzulaufen, sich selbst immerfort derart zu verändern, daß das Ausbeutungsprogramm des Parasiten nicht mehr darauf paßt.

Die Sexualität nun liefert dem Leib gewissermaßen den Treibstoff für seinen Wettlauf mit dem Parasiten. „Selektion und Fortpflanzung“, schreibt Serres, „sind eine Art Lotterie. Der ausgesetzte Preis ist – durchaus im Sinne des Egoismus der Gene – die genetische Repräsentation in der Zukunft, die Lose sind die Nachkommen. Bei einer Jungfernzeugung wäre das Lebewesen in der Lage, die meisten Lose zu kaufen, denn es vermeidet ja die Kosten für Gensharing. Seine Lose tragen jedoch alle die gleiche Nummer“.

„Ein Individuum aber“, so weiter Serres, „das seine Gene in einem sexuellen Akt mit denen eines anderen Individuums kombiniert, bekommt zwar weniger, doch dafür verschiedene Lose“. Das ist ein Vorteil, weil die Jungfer, die nun keine Jungfer mehr, sondern ein echtes Weibchen ist, auf biologische Veränderungen, besonders auf Parasitenbefall, reagieren kann, ohne darauf angewiesen zu sein, daß ihm zufällige Mutationen neue Möglichkeiten eröffnen. Zumindest einige seiner Nachkommen sind gegenüber dem Parasiten resistent geworden, wissen sich zu wehren.

Sexualität, so läßt sich à la Serres definieren, ist die Strategie, mit der sich ein „Wirt“ in optimaler Weise seine Existenz und seine Identität bewahrt. Das einzelne Individuum, einmal vom Parasiten befallen, muß meistens sterben, aber das in der sexuellen Begegnung stattfindende Gensharing eröffnet die Chance, daß der Nachkomme nicht sterben muß, wenigstens so lange nicht, bis sich der Parasit seinerseits den neuen Ausbeutungsbedingungen angepaßt hat. Es ist wahrhaftig ein Wettlauf mit dem Tod, und den Treibstoff dazu liefert die Sexualität.

Natürlich läßt sich keine der Behauptungen von Serres Punkt für Punkt auf moderne soziale Verhältnisse übertragen. Aber immerhin: Auch menschliches Sozialleben ist Leben und unterliegt letztlich dessen grundlegenden Gesetzmäßigkeiten. Wenn man bei Sarrazin liest (penibel mit ausführlichen Statistiken belegt), mit welch brutaler Konsequenz sich entscheidende Kräfte der „Migration“ der kulturellen Einordnung in das „Wirtsland“ BRD widersetzen und es einzig darauf anlegen, das hiesige Sozialleistungssystem für sich und die eigene Nachkommenschaft auszubeuten, dann kann man schon besorgt werden.

Hinzu kommt ja, daß auf seiten des „Wirts“ das von Serres identifizierte Abwehrsystem, also die Sexualität, hierzulande faktisch ausgeschaltet und entmachtet ist. Alles, was die Natur mit der Sexualität beabsichtigt hat: kontinuierliche Geburten, Erhaltung und Fortführung der eigenen Identität, Familienbildung, Familiensicherung – all das wird bekanntlich vom Zeitgeist und seinen Betreibern für vollständig obsolet erklärt, wird ironisiert, verhöhnt oder gar als „unmenschlich“ verketzert und kriminalisiert. Sexualität ist zur bloßen Spielwiese für „Selbstverwirklichung“ und Spaßhaben geworden.

Man respektiert sie nicht mehr als selbständige Kraft des Lebens, sondern hat sie erfolgreich „in Besitz genommen“. Just diese Art von Inbesitznahme beschreibt Serres in seinem neuesten Essay (der den Titel „Das eigentliche Übel“ trägt) als eine Form der Beschmutzung. Man nimmt heute etwas nur noch in Besitz wie ein Hund, der – wenn er markieren will: „Das ist mein“ – das Bein hebt und es anpinkelt.

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