© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

Panik vor einer Sarrazin-Partei
Ausländerpolitik: In der öffentlichen Debatte um die Thesen Thilo Sarrazins mehren sich die Anzeichen für eine Trendwende
Christian Vollradt

Ein Gespenst geht um in Deutschland: die Sarrazin-Partei. Jeder fünfte in Deutschland könnte sich vorstellen, sie zu wählen, so ermittelte das Umfrageinstitut Emnid, obwohl es diese Partei überhaupt nicht gibt; und obwohl der, nach dem sie benannt wurde, im Augenblick noch für seinen Verbleib in einer anderen Partei, der SPD, kämpft.

18 Prozent Zustimmung für eine nicht existente politische Gruppierung – dieses Paradoxon unterstreicht, was die erregte Diskussion um die Thesen des Noch-Bundesbankvorstands Thilo Sarrazin ohnehin offenbart: eine tiefe Kluft zwischen Regierenden und Regierten, zwischen (Volks-)Parteien und Volk.  In der mittlerweile dritten Woche hat sich jedoch eine Trendwende angedeutet. Angesichts des Widerspruchs, den die veröffentlichte Meinung in Form von Leserzuschriften erfuhr, erschienen mittlerweile immer mehr Artikel, in denen der ehemalige Berliner Finanzsenator vor den allzu eifrigen Tugendwächtern der Political Correctness in Schutz genommen wird.

Und mit einem Mal widmen sich auch Politiker, die Sarrazin in der vergangenen Woche noch als „untragbar“ abkanzelten, dem von ihm angesprochenen Problem der Intgrationsverweigerung. Mit Verträgen will etwa die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), „verbindlich festschreiben, was der Staat den Menschen zu bieten hat, aber auch was sie im Gegenzug zu leisten haben“. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) plädierte genauso wie der Generalsekretär der Christdemokraten, Hermann Gröhe, für schärfere Sanktionen. Daß Sarrazins Forderungen in ein parteipolitisches Vakuum stoßen, geht nicht nur der Union auf.

Der Fall Sarrazin habe offenbart, „daß es ein Potential für rechten Populismus auch in Deutschland gibt“, unkte der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Jürgen Trittin, im Interview der Neuen Westfälischen. Warum er dennoch hoffen darf, daß eine solche ungebetene Konkurrenz auf Abstand gehalten werden kann, verschweigt Trittin nicht: „Wegen unserer besonderen Geschichte herrschen in Deutschland andere Bedingungen als in der Schweiz oder Holland“; jede rechtspopulistische Partei habe hierzulande deswegen das Problem, „sich von den Neonazis abgrenzen zu müssen“. Daß das Potential für ein politisches Reformprogramm à la Sarrazin nicht nur den rechten Flügel betrifft, offenbart ein weiteres Detail der Emnid-Umfrage: Denn besonders groß ist der Zuspruch bei früheren Wählern der Linkspartei. 29 Prozent von ihnen könnten sich vorstellen, für den Noch-SPD-Politiker zu votieren. Der ehemalige Grünen-Politiker Oswald Metzger wird grundsätzlich: „Die Causa Sarrazin zeigt, daß sich die Politik vom Wahrnehmungshorizont der Bürger entfernt“, sagte er der JUNGEN FREIHEIT.

Einen Kollateralschaden mußte indes das deutsche Staatsoberhaupt hinnehmen. Bundespräsident Christian Wulff hatte vergangene Woche fahrlässig zum „Fall Sarrazin“ in eine Fernsehkamera geplaudert: „Ich glaube, daß jetzt der Vorstand der Deutschen Bundesbank schon einiges tun kann, damit die Diskussion Deutschland nicht schadet, vor allem auch international.“ Diese Aussage – allgemein als Wink mit dem Zaunpfahl zugunsten einer Entlassung Sarrazins verstanden – widersprach genau jener Leitlinie, die das Bundespräsidialamt zuvor noch in einer Stellungnahme ausgegeben hatte: „Der Bundespräsident äußert sich zu Vorgängen, die er im Rahmen seiner Amtsführung möglicherweise noch juristisch bewerten muß, grundsätzlich nicht.“  Der Vorstand der Bundesbank sah sich offenbar durch diese nicht regelkonforme Einmischung in seinem Vorgehen gegen den unbequemen Kollegen bestärkt. Am Donnerstag stimmte man einstimmig dafür, beim Bundespräsidenten die Abberufung Thilo Sarrazins zu beantragen. Im Schloß Bellevue steht eine Premiere bevor, denn es gibt keine juristische Entscheidung, die als Vorbild dienen könnte.

Mit seinem Fauxpas lieferte Wulff indes Sarrazin eine Steilvorlage. Er gehe davon aus, daß sich Wulff nicht ohne eine Anhörung einem Schnellverfahren anschließe. Immerhin habe er die Stärkung der Demokratie und des offenen Diskurses als eines seiner zentralen Themen gewählt. „Im übrigen ist die Meinung der Verfassungsrechtler in der Frage meiner möglichen Abberufung eher auf meiner Seite“, sagte Sarrazin dem Focus. Er warnte den Bundespräsidenten vor einem „politischen Schauprozeß“, der anschließend von den Gerichten kassiert werde. Sarrazin gab gegenüber dem Tagesspiegel zu, er habe mit dem Gedanken an einen freiwilligen Rücktritt gespielt. Allerdings habe der gewaltige Zuspruch, den er bekommen hatte, ihn eines besseren belehrt.

Mit einer Sarrazin-Partei wird es so schnell nichts werden, mag sie auch noch so heiß ersehnt sein. Allerdings waren Gruppierungen rechts der Union in jüngster Vergangenheit immer dann erfolgreich, wenn politische Mißstände besonders kraß zutage traten und dennoch von den etablierten Parteien nicht aufgegriffen wurden. Das gilt sowohl im Fall der Republikaner angesichts des Asylanten-Problems Ende der achtziger Jahre, als auch im Fall der Schill-Partei vor knapp zehn Jahren, deren Erfolg von den gravierenden Mängeln bei der Inneren Sicherheit in Hamburg beflügelt worden war.

Foto: Thilo Sarrazin auf einer Veranstaltung in Berlin am Montag: Mit dem Gedanken an einen freiwilligen Rücktritt gespielt

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen