© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/10 10. September 2010

Der Wind dreht sich
Wir sind das Volk: Die Entstehung einer neuen politischen Kraft liegt in der Luft
Michael Paulwitz

Ein Volksheld. Selbst notorisch schnoddrigen Spiegel-Redakteuren nötigt Thilo Sarrazin kaum verhohlenen Respekt ab. Ein Mann wirft den vollen Einsatz, sein Amt, sein Parteibuch und seine persönliche Reputation auf den Tisch, um seine Mission zu erfüllen: die Debatte um Einwanderung und Integration auf ihren Kern zurückzuführen, nämlich auf die Interessen des Staatsvolks und die Wahrung seiner Identität, und mit Fakten und Argumenten das Gewebe von ideologischen Wünschbarkeiten, selbstbefriedigender Schönrederei und verbohrter Realitätsverweigerung zu zerreißen, das diese Auseinandersetzung die längste Zeit in den geistigen Untergrund verbannt hat.

„Allein machen sie dich ein, schmeißen sie dich raus, lachen sie dich aus“, hieß es mal bei Rio Reiser. Thilo Sarrazin ist nicht allein. Er hat den kollektiven Wutanfall fast des gesamten politisch-medialen Establishments, von den Spitzen des Staates bis hinab zu den kleinen Mitläufern in den Feuilletons, überstanden, ohne die breite Zustimmung der ganz normalen Leute zu verlieren. Er ist zur Symbol- und Identifikationsfigur für das Aufbegehren der von Politikern in Reden gerne gepriesenen und im politischen Tun täglich verachteten, ausgeplünderten, beschimpften und für dumm verkauften bürgerlichen Mitte geworden.

Gleichgültig also, ob Thilo Sarrazin aus der SPD, der Bundesbank und weiteren Literaturhäusern herausgeworfen werden wird oder nicht: Er hat die Republik bereits verändert. Die alten Empörungs- und Ausgrenzungsmechanismen funktionieren nicht mehr. Das ist eine fast schon revolutionäreSituation und macht die Causa Sarrazin in der Tat zur „historischen Wegmarke“ (Cora Stephan).

Die tiefe Kluft zwischen Realität und öffentlichem Diskursritual, die Einzelkämpfer wie Kirsten Heisig und Thilo Sarrazin unbarmherzig offengelegt haben, ist in Wahrheit ein unüberbrückbarer Graben zwischen Volk und politisch-medialer Klasse. Diese bildet, in der feinen Ironie des Soziologen Bolz, längst eine eigene „Parallelgesellschaft“.

Je länger die Sarrazin-Debatte andauert, desto entsetzter muß die Nomenklatura dieser geschlossenen Gesellschaft zur Kenntnis nehmen, daß ihre Diskursregeln und Verdikte außerhalb des eigenen geistigen Milieus nicht mehr ernstgenommen werden. Gleichgültig,

ob man dem Störenfried Sarrazin die Nazi-Schelle umhängt und bebende Empörung zelebriert, ihn für verschroben oder verrückt erklärt und tribunalartige Runden von „Experten“ und in den eigenen Diskursbetrieb integrierten Vorzeige-Migranten zu seiner Widerlegung aufmarschieren läßt – die Zahl derer, die dem Dissidenten Sarrazin recht geben, wird nicht kleiner, sie wächst sogar noch an. Auch immer mehr Meinungsmacher schwenken um oder wagen sich aus der Deckung. Ein Hauch von „Wir sind das Volk“ liegt über der zerbröselnden Diskurshegemonie der politischmedialen Jakobiner, denen es nicht mehr gelingt, einen Abweichler mundtot zu machen.

In den Etagen der Machtverwaltung spürt man das und reagiert nervös. Die einen klammern sich an die vorgestanzten Reaktionsschablonen, die doch so lange funktioniert haben. So wie das trostlose Funktionärsgewächs Andrea Nahles, die als SPD-Generalsekretärin die störrische Basis so lange bearbeiten will, bis sie endlich kapiert, warum man Sarrazin partout ausschließen will. Das Exkommunikationsverfahren gegen den mißliebigen Autor verspricht für die SPD ein ebensolcher Pyrrhussieg zu werden wie für Kanzlerin und Bundespräsident dessen Abberufung aus der Bundesbank, deren Unabhängigkeit sie mutwillig beschädigt haben, um ihren bundesrepublikanischen Säuberungsrefl ex auszuleben.

Andere betätigen sich bereits als Wendehälse, fallen ihren Parteioberen und Meinungsvormündern in den Rücken und versuchen die von Sarrazin losgetretene Integrationsdebatte zu usurpieren. Mitunter sind es die gleichen, die ihm anfangs noch entgegengehalten hatten, darüber zu reden sei ja gar nicht nötig, man wisse das alles doch schon und die Lösung sei überhaupt bei ihnen am besten aufgehoben. Herauskommen wird dabei kurzfristig nicht viel. Wegreden lassen sich die Mißstände jetzt aber nicht mehr.

Der zweite „Fall Sarrazin“ hat die Akzente noch stärker verschoben und die Zone des Denk- und Sagbaren weiter ausgedehnt als je zuvor. Auch die wütenden Beißrefl exe des als Problemvertuscher bloßgestellten linksliberalen Establishments werden nicht mehr aus der Welt schaff en können, daß es bei der Aufnahme und Eingliederung von Einwanderern um Völker, Kulturen und Identitäten gehen muß und nicht allein um Problemstellungen des Sozialingenieurwesens.

Es ist daher nur eine Frage der Zeit, bis dieses Mehr an Meinungsfreiheit sich in einer Umwälzung des politischen Gefüges niederschlägt. Dabei ist es, folgt man den Umfragen, für das unzufriedene Viertel oder Fünftel unerheblich, ob sie am Ende eine Sarrazin-Partei, eine Gauck-Partei oder eine andere neue Kraft wählen: Der Unmut über die abgewirtschafteten Funktionseliten kann sich auf jeden richten, der eine glaubwürdige Alternative anbietet. Das mit Pfeifen im Walde vorgetragene Credo, eine freiheitlich-konservative Neugründung hätte traditionell in Deutschland keine Chance, könnte sich als Fehlspekulation erweisen: In zwei Sarrazin-Debatten ist auch die NS-Keule morsch geworden, die bisher stets erfolgreich gegen jeden neuen Versuch rechts der Union geschwungen wurde.

Zerfällt die CDU, oder steigt ein deutscher Geert Wilders auf, den wir vielleicht noch gar nicht kennen? Mag sein, daß die kritische Masse noch nicht erreicht ist, daß die Zahl der Dissidenten aus Wirtschaft, Medien, Wissenschaft und Politik, die eine politische Reformbewegung stützen könnten, noch wachsen muß – doch auch dieser Nachtmahr wird die etablierten Parteizentralen noch heimsuchen, wenn die Erregung über Sarrazins Thesen längst wieder abgeklungen ist. Der Geist der Freiheit ist aus der Flasche und will freiwillig nicht mehr zurück.

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