© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Sehnsuchtsorte kritisch seziert
Bildungsbürger auf Reisen
Christian Schwiesselmann

Wem Urlaub zu teuer und eine lange Fernreise zu umständlich ist, der sollte zum Buch von Renate und Wolf von Stralendorff greifen. Das pensionierte Ärztepaar nimmt seine Leser mit auf große Fahrt um die ganze Welt. Ihre Reiseziele sind Sehnsuchtsorte der besonderen Art: Sie reichen von den Alpenländern über die entlegenen Südseeinseln der Karibik und Polynesiens bis zum verlorenen deutschen Osten. Dabei geht es nicht um kommode Kreuzfahrten gutbetuchter Pensionäre, sondern um Bildung und geschichtliche Reflexion. Die Autoren glauben: „Bildungsreisen sind harte Arbeit.“

Offensichtlich der Arbeitsteilung geschuldet ist die Zweiteilung des Reisebuchs. Während Renate von Stralendorff – bis 2001 Chefärztin im Krankenhaus Prenzlauer Berg in Berlin – das bisweilen sehr private Reisetagebuch führte, hat der ehemalige Sportmediziner und Schiffsarzt Wolf von Stralendorff den geschichtspolitischen Anhang beigesteuert. Darunter leidet die Gesamtkomposition des Buches, der es insgesamt an Prägnanz mangelt. Viele Reisedetails lassen sich im Baedeker nachschlagen; die „Gedankensplitter zur Nachbereitung“ lesen sich eher holprig.

Der Reisebericht derer von Stralendorffs glänzt da, wo er die ausgetrampelten Pfade der politischen Korrektheit oder einer üblichen Romantisierung verläßt, etwa in der Schilderung des „schwarzen“ Rassismus in Südafrika oder der gesellschaftlichen Zustände auf Mauritius, in Lissabon, Paris und London.

Auch was die Autoren von ihrer Reise durch Pommern, West- und Ostpreußen berichten, ist wohl symptomatisch für die Bewältigung des Vertreibungsunrechts jenseits der Oder. Mit dem aussterbenden Heimatgefühl der hochbetagten Erlebnisgeneration wird kräftig Kasse gemacht. Das gilt für einige polnische Reiseführer, das gilt aber auch für die Organisationen der verbliebenen Restdeutschen zur Traditionspflege. Kaum einer ihrer Nachkommen versteht die Muttersprache. Statt dessen hängen die Verbände finanziell am Tropf deutscher Reiseveranstalter. Wenn „Ännchen von Tharau“ abgesungen ist, tritt als Produkt polnischer geschichtspolitischer Programmierung die Deutschenfeindlichkeit zutage.

Lektion der Lektüre: Der Pauschaltourismus siegt unaufhaltsam. Beinahe wehmütig spiegelt das Buch in seinen Verfassern eine untergehende Spezies mitsamt ihrer Literaturgattung wider: den Bildungsbürger und die Reiseliteratur. 

Wolf und Renate von Stralendorff: Die Wurzeln der Vergangenheit reichen tief. Gedanken über Geschichte vor Ort. Persönliches Erleben zeithistorisch betrachtet. Lindenbaum Verlag, Schnellbach 2010, gebunden, 360 Seiten, Abbildungen, 19,80 Euro

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