© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Mahnungen zerstoben im Wind
Integrationsdebatte: Die von Thilo Sarrazin benannten Probleme wurden schon vor Jahrzehnten angesprochen – geändert hat sich wenig
Thorsten Thaler

Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“, das landauf, landab für aufgeregten Gesprächsstoff sorgt, ist nicht vom Himmel gefallen. Es hat in letzten dreißig, vierzig Jahren eine Reihe von Politikern, Wissenschaftlern und Publizisten gegeben, die allesamt mehr oder minder deutlich viele jener Probleme angesprochen haben, die auch Sarrazin umtreiben. Wer sich in den Archiven auf die Suche nach diesen Vorläufern begibt, fördert Erstaunliches zutage.

So entbehrt es nicht einer gewissen Pikanterie, daß die SPD jetzt den Sozialdemokraten Sarrazin für dessen Äußerungen zur Zuwanderung und Integration von Ausländern sowie zur demographische Krise und Bevölkerungsentwicklung aus der Partei ausschließen will. Immerhin kamen die ersten mahnenden Stimmen, in der Ausländerpolitik nicht das Augenmaß zu verlieren, von zum Teil hochrangigen Sozialdemokraten. So sagte Bundeskanzler Willy Brandt im Januar 1973 in seiner Regierungserklärung: „Es ist aber notwendig geworden, daß wir sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo die soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten.“

Beruhigungspillen für das Wählervolk

Brandts Nachfolger Helmut Schmidt erklärte laut Ruhr-Nachrichten vom 13. Februar 1975: „Beim Zuzug von Gastarbeiterangehörigen ist die zulässige Grenze inzwischen erreicht und in manchen Fällen schon überschritten.“ Im Mai 1978 machte Schmidt mit Blick auf integrationspolitische Probleme hierzulande deutlich, daß den Möglichkeiten des deutschen Arbeitsmarktes „zur Zeit enge Grenzen gesetzt“ seien. Und erst vor sechs Jahren erklärte der Altkanzler am 24. November 2004 in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt: „Die von einigen intellektuellen Idealisten sogenannte multikulturelle Gesellschaft, also die Mischung europäischer und außereuropäischer Kulturen, ist bisher nirgendwo wirklich gelungen. (…) Insofern war es ein Fehler, daß wir zu Beginn der sechziger Jahre Gastarbeiter aus fremden Kulturen ins Land holten.“

Der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Nordrhein-Westfalens vormaliger SPD-Ministerpräsident Heinz Kühn, sagte am 13. September 1980 in der Neuen Osnabrücker Zeitung: „Wenn die Zahl der Ausländer, die als Minderheit in einer Nation leben, eine bestimmte Grenze überschreitet, gibt es überall in der Welt Strömungen des Fremdheitsgefühls und der Ablehnung. (…) Allzu viel Humanität ermordet die Humanität.“ Und in der Illustrierten Quick vom 15. Januar 1981 wird er mit dem Satz zitiert: „Unsere Möglichkeiten, Ausländer aufzunehmen, sind erschöpft.“

Weitgehend in Vergessenheit geraten ist das Buch „Die Erde wächst nicht mit“ des SPD-Politikers Martin Neuffer, in dem der langjährige Oberstadtdirektor von Hannover und ehemalige NDR-Intendant 1982 ein Umdenken in der Einwanderungspolitik forderte. Neuffer plädierte dafür, die Einwanderung vor allem von Türken „scharf“ zu drosseln und auch das Asylrecht „drastisch“ auf Europäer zu beschränken. Er warnte vor den wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Folgen der Masseneinwanderung vor allem türkischer Familien. Die Verlagerung des türkischen Bevölkerungswachstums in die Bundesrepublik sei „ein gemeingefährlicher Unfug“.

In den meisten Fällen bestehe nur wenig Aussicht, so Neuffer, daß die gutgemeinten Integrationsbemühungen der Bundesrepublik je dazu führten, daß diese Türken Deutsche werden. „Es muß vielmehr damit gerechnet werden, daß die Integrationschancen mit der zunehmenden Massierung immer größerer Zahlen von türkischer Bevölkerung weiter absinken. Je mehr Türken hier leben, um so geringer ist die Aussicht, daß es zu einer echten ‘Einbürgerung’ kommt.“ Auf die Herausbildung von Wohnungsschwerpunkten der Ausländer folge die Verdrängung eingesessener deutscher Bevölkerung aus ihren Stadtteilen.

Der SPD-Politiker warb dafür, daß die Deutschen „einigermaßen“ unter sich bleiben sollten. „Es soll ihr Recht gewahrt und gesichert werden, in einem deutschen und nicht in einem Vielvölkerstaat zu leben“, forderte Neuffer.

Natürlich hat es auch frühe Warnungen von christdemokratischen und liberalen Politikern gegeben. Zu Beginn seiner Kanzlerschaft erklärte Helmut Kohl am 3. Oktober 1982 in einem ZDF-Interview: „Aber es ist auch wahr, daß wir die jetzige vorhandene Zahl der Türken in der Bundesrepublik nicht halten können, daß das unser Sozialsystem, die allgemeine Arbeitsmarktlage, nicht hergibt. Wir müssen jetzt sehr rasch vernünftig, menschlich sozial gerechte Schritte einleiten, um hier eine Rückführung zu ermöglichen.“ Fraktionschef Alfred Dregger sagte auf einer Tagung der CDU in Bonn am 21. Oktober 1982: „Die Rückkehr der Ausländer in ihre Heimat darf nicht die Ausnahme, sondern muß die Regel sein. Es ist nicht unmoralisch zu fordern, daß der uns verbliebene Rest Deutschlands in erster Linie den Deutschen vorbehalten bleibt.‘‘

Kohls Koalitionspartner von der FDP, Außenminister Hans-Dietrich Genscher, erklärte in einer Rede vor dem Bundestag laut der Zeitschrift Das Parlament vom 27. Oktober 1984: „Wir sind kein Einwanderungsland. Wir können es nach unserer Größe und wir können es wegen unserer dichten Besiedlung nicht sein. Deshalb geht es darum, ohne Eingriffe in die Rechte des einzelnen und der Familie, ohne Verletzung der Grundsätze der Toleranz zu einer Verminderung der Ausländerzahlen zu kommen.‘‘

In seinem 1992 erschienenen Buch „Asyl. Ein mißbrauchtes Recht“ schrieb Berlins CDU-Innensenator Heinrich Lummer: „Multikulturelle oder multinationale Gesellschaften sind meist Konfliktgesellschaften. (…) Natürlich ist es keineswegs gleichgültig, aus welchem Kulturkreis die Einwandernden kommen. (…) Allmählich sollte sich die Einsicht durchsetzen, daß sich der Islam immer stärker als ein riesiges Integra­tionshemmnis erweist.“ Weiter heißt es bei Lummer: „Der Islam hat ein anderes Familienverständnis, Kinderreichtum hat einen hohen positiven Stellenwert. (…) Auch ohne jede weitere Zuwanderung wird die Zahl der Moslems in Deutschland weiter steigen. Unserem Land droht die Überfremdung von innen heraus, weil der Bevölkerungsanteil der Deutschen ständig sinkt.“

Daß der Ausländeranteil sowohl unter den sozial-liberalen Regierungen Brandt/Scheel und Schmidt/Genscher als auch in der Ära Kohls in den Jahren von Mitte der Siebziger bis Ende der Neunziger von etwa vier Millionen Ausländern in Deutschland kontinuierlich auf über sieben Millionen gestiegen ist, steht auf einem anderen Blatt. Es mag insofern müßig sein, heute noch darüber zu sinnieren, ob und inwieweit solche Äußerungen je mehr bedeuteten, als dem Wählervolk Beruhigungspillen zu verabreichen. Fakt ist jedoch auch, daß diese frühen zuwanderungs- und integrationskritischen Äußerungen nicht weit entfernt sind von den Thesen Sarrazins.

Trotz der vielen Appelle blieb ein Politikwechsel aus

Ganz zu schweigen von Mahnungen parteipolitisch unabhängiger Wissenschaftler und Publizisten in frühen Jahren, etwa dem Heidelberger Manifest vom 17. Juni 1981, den Publikationen von Robert Hepp, besonders „Die Endlösung der deutschen Frage“ (1988), und Rolf Stolz oder dem heute völlig vergessenen Bayreuther Aufruf aus dem August 1998. Ein Vergleich: „Daß die autochthonen Deutschen“, schreibt Sarrazin, „innerhalb kurzer Zeit zur Minderheit in einem mehrheitlichen muslimischen Land mit einer gemischten, vorwiegend türkischen, arabischen und afrikanischen Bevölkerung werden, wäre die logische und zwingende Konsequenz aus dem Umstand, daß wir als Volk und Gesellschaft zu träge und zu indolent sind, selbst für ein bestanderhaltendes, unsere Zukunft sicherndes Geburtenniveau Sorge zu tragen, und diese Aufgabe quasi an Migranten delegieren.“

Das Heidelberger Manifest drückt diesen Gedanken verknappt so aus: „Allein lebensvolle und intakte deutsche Familien können unser Volk für die Zukunft erhalten. Nur eigene Kinder sind die alleinige Grundlage der deutschen und europäischen Zukunft.“ Unterschrieben war das Manifest, das vor einer Unterwanderung des deutschen Volkes und einer Überfremdung der deutschen Sprache, der Kultur und des Volkstums warnte, von fünfzehn Hochschulprofessoren.

In dem Bayreuther Aufruf heißt es, die kulturelle und soziale Integration könne nur in einem Umfeld gelingen, „in dem die Deutschen sich als Mehrheit wahrnehmen. In Deutschland leben heute in großer Zahl Ausländer, die der Kultur ihres Gastlandes völlig interesselos gegenüberstehen.“ Und: „Soll die ebenso notwendige wie wünschenswerte Integration hier lebender eingliederungswilliger Zuwanderer gelingen, darf Deutschland nicht länger ein Land unkontrollierter und maßstabloser Zuwanderung sein.“ Zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs gehörten Unionspolitiker wie Jörg Schönbohm, Peter Kurt Würzbach, Hartmut Koschyk und auch Rainer Eppelmann, einige Wissenschaftler wie Arnulf Baring (Berlin) und der Philosophieprofessor Reinard Hesse (Freiburg), zwei Pfarrer sowie der langjährige Gewerkschafter und Sozialdemokrat Horst Niggemeier.

Einen Politikwechsel haben alle diese Mahnungen nicht bewirkt.

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