© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Reaktionen auf Sarrazin

Die Äußerungen von Sarrazin, „die für viele Menschen in diesem Land nur verletzend sein können“, seien „vollkommen inakzeptabel“, ließ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihren Regierungssprecher Steffen Seibert namens seiner Chefin mitteilen. Sarrazin diffamiere und spitze „sehr, sehr polemisch“ zu. Der frühere Berliner Finanzsenator sei „überhaupt nicht hilfreich“ bei der „großen nationalen Aufgabe“, mit der Integration voranzukommen. „Da müßte ein ganz anderer Ton angeschlagen werden“, meinte der Regierungssprecher.

„Da wird wieder einmal in typischer Art und Weise auf den Überbringer der schlechten Nachricht eingeprügelt“, stellte der ehemalige Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, in der JUNGEN FREIHEIT zum Umgang mit Sarrazin fest. Die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung unterstütze die meisten seiner Thesen, so Henkel.

„Die Bundesbank ist eine Institution, in der Diskriminierung keinen Platz hat. Die abwertenden Äußerungen von Dr. Sarrazin sind geeignet, den Betriebsfrieden erheblich zu beeinträchtigen, zumal zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Migrationshintergrund haben. Die Bundesbank dankt ausdrücklich allen Beschäftigten für ihren Beitrag zur Erfüllung der Aufgaben der Bundesbank und für die Loyalität, die sie der Institution erweisen. Der Vorstand der Deutschen Bundesbank wird unverzüglich ein Gespräch mit Herrn Dr. Sarrazin führen, ihn anhören und zeitnah über die weiteren Schritte entscheiden.“

„Was hat er denn Aufregendes behauptet“, fragte der jüdische Publizist Henryk M. Broder. „Alle Fakten können Sie nachlesen. Man sieht: Deutschland liebt zwar angeblich die Querdenker. Aber nichtkonforme Meinungen sind den Deutschen suspekt. Daher jetzt diese Hexenjagd.“ Sarrazin sei „kein Hetzer, kein Rassist, sondern ein klassischer Naiver, der schreibt, was er sieht.“

„Sarrazin trifft den Kern einer Politik, die von falschen Voraussetzungen ausgeht“, meinte die türkischstämmige Soziologin Necla Kelek in der FAZ: „Daß er nicht in einem muslimischen Deutschland leben will, weil ihm dieses Gesellschaftsmodell suspekt ist, worin besteht das Problem? Der Ökonom Sarrazin errechnet, daß aus 750.000 Arbeitsmigranten aus der Türkei fast drei Millionen geworden sind, deren erwerbsfähiger Teil zu vierzig Prozent von Sozialleistungen lebt, sagt, das sei volkswirtschaftlich eine miese Bilanz, und überlegt, ob Zuwanderung, wie sie stattfindet, nicht falsch ist. Das ist kein Grund, sich über den Autor zu empören, sondern wir müssen die Politiker, die dieses Ergebnis zu verantworten haben, fragen, ob sie im Interesse dieses Landes regiert haben.“

„Verantwortungslos, gefährlich und falsch“ nennt der Zentralrat der Muslime in Deutschland die Thesen Sarrazins. Sein Buch spreche „Teilen der Bevölkerung ihr Existenzrecht“ ab und sei „eine Kampfansage an die Demokratie“, so der Generalsekretär des Verbandes, Aiman Mazyek. Sarrazin gehöre nicht in die SPD und auch nicht in die Bundesbank, denn seine Thesen nutzten Extremisten.

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel legte Sarrazin den Austritt aus seiner Partei nahe und distanzierte sich in scharfer Form von ihm: „Wenn Sie mich fragen, warum der noch bei uns Mitglied sein will – das weiß ich auch nicht.“ Sarrazins Sprüche seien zum Teil „dämlich“ und die Sprache mitunter „gewalttätig“, sagte Gabriel. Der SPD-Chef kündigte an, er wolle genau prüfen, ob Sarrazins Zuordnung von Charakterisierungen zu bestimmten Bevölkerungsgruppen wie Afrikaner oder Asiaten nicht „eindeutig rassistisch“ sei.

„Die Thesen, die Herr Sarrazin vertritt, sind außerhalb des demokratischen Bogens“, sagte Grünen-Chef Cem Özdemir in der ARD. „Es geht ihm nicht um die Probleme, es geht ihm offensichtlich darum, Probleme zu verschärfen.“ Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Renate Künast, sagte während einer Pressekonferenz, bei Thilo Sarrazin handele es sich „um eine Art Dauerdelikt“. Sie kündigte an, ihre Fraktion werde im Bundestag ein Verfahren vorschlagen, bei dem die Bundesregierung eine Abberufung von Mitgliedern des Bundesbank-Vorstands vorschlagen könne und der Bundespräsident sie dann vornehme. Laut Künast habe Sarrazin gegen den Verhaltenskodex der Bundesbank für ihre Vorstandsmitglieder verstoßen.

„Es ist unerträglich, was Herr Sarrazin mit seinen wirren sozio-biologischen Annahmen über die Intelligenz von Migranten zum wiederholten Male der Öffentlichkeit zumutet“, ergänzte  Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Deutschland sei ein Einwanderungsland, „und auf die Liberalität und Offenheit unserer Gesellschaft können wir stolz sein“, so die FDP-Politikerin. Es müsse ganz klar sein, daß Sarrazins Thesen „nicht ansatzweise Auffassung der im Bundestag vertretenen Fraktionen seien“. Jeder wisse, daß der wirtschaftliche Aufschwung der Bundesrepublik von den zahlreichen Migranten mit geschaffen worden sei.

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), warf Sarrazin „pauschale Polemik gegen muslimische Migranten“ vor, die „diffamierend und verletzend“ sei. Er sei deshalb im Vorstand der Bundesbank „nicht mehr tragbar“. Auch Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) ging auf Distanz zu Sarrazin: Jede Provokation habe ihre Grenzen, und diese Grenze sei nun mit der ebenso „mißverständlichen wie unpassenden Äußerung eindeutig überschritten“. Noch deutlicher wurde CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt: „Der Typ hat einen Knall“, kritisierte Dobrindt im Münchner Merkur. Dennoch müsse man über Fehler bei der Integration diskutieren  – vor allem über „den mangelnden Integrationswillen von türkischstämmigen und muslimischen Migranten“. Lediglich der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler verteidigte Sarrazin. Dieser sei „nicht irgendein hergelaufener Polemiker, sondern hat in wichtigen Staatsämtern Herausragendes geleistet“. Zum Thema Überforderung Deutschlands durch Einwanderung hätten sich Helmut Schmidt, Oskar Lafontaine und auch Rudolf Augstein schon härter geäußert.

„Menschenverachtend“ nannte die ehemalige Hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann Sarrazins Äußerunge . „Gerade in Deutschland haben wir die Erfahrung gemacht, wenn Bevölkerungsgruppen derart diffamiert werden, was das bedeuten kann an Ausgrenzung, an Menschenverachtung bis hin zur Auslöschung von Menschenleben“, sagte die im Februar als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland zurückgetretene Theologin dem NDR. Käßmann nannte es zudem „schwierig“, daß viele Menschen ähnlich empfänden wie Sarrazin und er pauschal etwas ansprechen könne, was für viele ein Problem sei.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat Sarrazin empfohlen, von der SPD zur NPD zu wechseln. Dies mache die „Gefechtslage“ einfacher und sei eine Befreiung für die Sozialdemokraten, so Generalsekretär Stephan Kramer gegenüber Handelsblatt Online. Kramer nannte es erfreulich, daß sich SPD-Chef Sigmar Gabriel unverzüglich von Sarrazin und seinen „ abwegigen Rassentheorien“ distanziert habe. Der Vizepräsident des Zentralrats, Dieter Graumann, nannte es zwar „legitim, die Defizite in Sachen Integration heftig und auch kontrovers“ anzusprechen. „Aber hier werden doch Menschen verletzt, verunglimpft und gekränkt – und das geht in jedem Fall zu weit.“

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