© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Hohle Drohungen
Lissabon-Urteil: Das Bundesverfassungsgericht entpuppt sich als Papiertiger
Gerhard Vierfuss

Etwas mehr als ein Jahr ist es jetzt her, daß der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts sein Lissabon-Urteil verkündete. Zwar ließ das Gericht den Ersatz für die gescheiterte EU-Verfassung passieren, es versah ihn jedoch mit einer für die deutschen Staatsorgane verbindlichen Auslegung, die an der Souveränität des deutschen Staates orientiert war und für Kompetenzübertragungen auf Organe der Europäischen Union strikte Regeln formulierte, insbesondere das Prinzip der Einzelermächtigung. Für sich selbst beharrte das Gericht auf dem Recht zur „Ultra-vires-Kontrolle“, das heißt zur Überprüfung von Rechtsakten der EU daraufhin, ob sie die ihnen gesetzten Grenzen einhalten oder nicht.

In der Außenwirkung stellte sich das Urteil als eine Drohung dar: Wir deutschen Verfassungsrichter werden zukünftig Angriffe der EU auf die deutsche Souveränität abwehren. Jetzt weiß man, daß diese Drohung hohl war. Mit dem vor einer Woche veröffentlichten Beschluß wiederum des Zweiten Senats vom 6. Juli 2010, in dem er das sogenannte Mangold-Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) als verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden akzeptiert, erweist sich das Bundesverfassungsgericht im Verhältnis zur EU endgültig als Papiertiger. Denn der Name „Mangold“ ist geradezu ein Synonym für Kompetenzanmaßungen durch den EuGH geworden.

In seinem so bezeichneten Urteil aus dem Jahr 2005 erklärte der Gerichtshof eine Richtlinie gegen Altersdiskriminierung, die Deutschland noch nicht in staatliches Recht umgesetzt hatte und deren Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war, gleichwohl für in Deutschland unmittelbar geltendes Recht. Damit erklärte es zugleich eine Regelung des deutschen Teilzeit- und Befristungsgesetzes, die sich auf ältere Arbeitnehmer bezog, rückwirkend für unanwendbar. Zur Begründung verwies es einerseits auf eine von ihm postulierte Vorauswirkung von Richtlinien und andererseits auf einen angeblichen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, der Altersdiskriminierungen verbiete.

Mit seinem Beschluß vom 6. Juli wies das Bundesverfassungsgericht jetzt die Verfassungsbeschwerde eines Unternehmens ab, das vom Bundesarbeitsgericht unter Verweis auf das Mangold-Urteil des EuGH zur unbefristeten Weiterbeschäftigung eines befristet eingestellten älteren Arbeitnehmers verurteilt worden war. Damit versagt es den von ihm zuvor versprochenen Rechtsschutz gegenüber nicht demokratisch legitimierten Akten von Unionsorganen. Zugleich sanktioniert es das Vorgehen des EuGH, über immer weitere, bis an die Grenze der Willkür reichende Rechtsfortbildungen mehr und mehr Kompetenzen von den europäischen Staaten auf die EU-Ebene zu verlagern.

Dabei bekräftigt das Bundesverfassungsgericht den im Lissabon-Urteil formulierten Anspruch, sich „im Fall von ersichtlichen Grenzüberschreitungen bei Inanspruchnahme von Zuständigkeiten durch die Europäische Union“ eine Kontrollbefugnis vorzubehalten. Allerdings verwässert es diesen Vorbehalt durch Einfügung weiterer Bedingungen und Leerformeln derart, daß sich der Eindruck aufdrängt, es habe einem Konflikt mit dem Europäischen Gerichtshof um jeden Preis aus dem Weg gehen wollen. So wird das Erfordernis der „ersichtlichen Grenzüberschreitung“ jetzt erweitert um die Bedingung, sie müsse auch „hinreichend qualifiziert“, also „offensichtlich“ sein und „im Kompetenzgefüge (...) erheblich ins Gewicht“ fallen.

Auf diese Weise gelangt das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, eine Rechtsfortbildung ultra vires durch den EuGH sei „nicht ersichtlich“ – eine Formulierung, die angesichts der zahlreichen Merkwürdigkeiten und Unklarheiten im Urteil des Europäischen Gerichtshofs, auf die das Bundesverfassungsgericht hinweist, die es aber allesamt auf sich beruhen läßt, einer gewissen Komik nicht entbehrt. Einer Komik, die dadurch nicht abgemildert wird, daß es dem EuGH einen „Anspruch auf Fehlertoleranz“ zubilligt.

In einem ausführlichen Sondervotum erinnert der Richter Landau an die im Lissabon-Urteil angemahnte Bindung von Kompetenzausübung an demokratische Legitimation. Diese erfordere eine „tatsächliche, durchgehende Anknüpfung an das Staatsvolk“. Wo diese nicht gegeben sei, habe das Bundesverfassungsgericht die Pflicht zum Einschreiten. Indem die Senatsmehrheit dabei über das Erfordernis einer „ersichtlichen Kompetenzverletzung“ hinausgegangen sei, habe sie den Konsens der Lissabon-Entscheidung verlassen.

Dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe fehlt offensichtlich der Mut, seinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden und einen effektiven Rechtsschutz gegen Kompetenzanmaßungen durch den EuGH zu gewährleisten. Dies zwingt dazu, die Erwartungen an künftige Entscheidungen des Gerichts – wie die über den Euro-Rettungsschirm – zu reduzieren. Vor allem aber fordert es zum Nachdenken darüber auf, wie in Zukunft auf die schleichende Kompetenzverschiebung von der nationalen auf die europäische Ebene reagiert werden soll. Man kann durchaus die Frage stellen, ob es mündigen Bürgern angemessen ist, den Kampf um ihre Selbstbestimmung an acht Richter in Karlsruhe zu delegieren.

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