© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/10 03. September 2010

Prophet einer Wende
Mit Thilo Sarrazin wird ein prominentes Mitglied der Funktionselite zum politischen Dissidenten
Thorsten Hinz

Die Zahlen und Fakten liegen jetzt, in einen Bestseller verpackt, auf dem Büchertisch. Spiegel und Bild haben Thilo Sarrazins Kernthesen an ein Massenpublikum gebracht. Sie lauten: Das Land altert, schrumpft und wird im Durchschnitt dümmer. Die Zuwanderung gebärfreudiger Unterschichten aus nichteuropäischen Kulturkreisen vergrößert neben den intellektuellen Defiziten die sozialen und wirtschaftlichen Probleme. Zusammen führt das zum Abstieg des Landes. „Wir Deutschen müssen nicht vertrieben werden, wir ziehen uns still aus der Geschichte zurück nach der Gesetzmäßigkeit der Sterbetafel des Statistischen Bundesamtes.“ Die Schuld gibt er nicht dem Islam und den Muslimen, sondern den Deutschen, weil sie diese Entwicklung hinnehmen. Der Titel  lautet folgerichtig: „Deutschland schafft sich ab“ – ein Prozeß, in dem mentale Schwäche und politischer Unverstand sich wechselseitig verstärken. Sarrazins Buch ist das Geschenk eines Citoyen an sein Gemeinwesen!

Nein, Thilo Sarrazin kommt nicht als Heilsbringer über die Deutschen. Als Bundesbankvorstand, ehemaliger Berliner Finanzsenator und langjähriger Beamter im Bundesfinanzministerium gehört er selber zur Funktionärskaste, die das Abgleiten des Landes zugelassen und forciert hat. Doch von den typischen Politikern, den „Generalisten“ (Richard von Weizsäcker), die irgendwie alles, aber nichts wirklich können, unterscheidet ihn sein Fachwissen, das ihn zu echten Problemanalysen befähigt. In Berlin hat er die Negativspirale aus wirtschaftlicher Schwäche, sozialer Verwahrlosung, unqualifizierter Zuwanderung und gesellschaftspolitischen Konflikten eingehend studiert. Er weiß, daß die Berliner Situation sich perspektivisch auf Deutschland hochrechnen läßt. Und nach wie vor droht eine internationale Finanz- und Währungskrise, die in eine Systemkrise münden würde. Die Möglichkeiten, sich inneren Frieden durch soziale Zuwendungen zu erkaufen, wären dann endgültig erschöpft. Die erwartbare Rebellion der Unterschicht, die zum großen Teil ethnisch-religiös grundiert ist, könnte sich bis zum partiellen Bürgerkrieg steigern.

Die Flammenzeichen stehen seit Jahrzehnten an der Wand. Sarrazins Buch ist ein Signal, daß die Funktionseliten über das weitere Vorgehen uneins sind. In Krisenzeiten geschieht es häufig, daß ein Funktionär mit kritischen Botschaften aus den Kulissen tritt. Sarrazin spricht nicht einfach pro domo. Bild und Spiegel sind staatsnahe Presseorgane mit der größten Massenwirkung. Die Anregung zum Buch kam von der renommierten Deutschen Verlagsanstalt, die sich unter dem Dach der Verlagsgruppe Random House befindet, die wiederum zum international operierenden Bertelsmann-Konzern gehört. Der politische Ehrgeiz der Bertelsmann-Stiftung ist bekannt. Gegen alle Gewohnheit verhallte das Gezeter des Zentralrats der Juden resonanzlos, bis Sarrazin sich von Springer-Journalisten aufs Glatteis führen ließ und ein jüdisches Gen ins Spiel brachte. Der Grund für die Zurückhaltung dürfte darin liegen, daß Israel sein wichtigster europäischer Verbündeten verlorenzugehen droht, wenn die demographische Entwicklung, vor der Sarrazin warnt, ungebremst weitergeht.

Es gibt einen Präzedenzfall aus der Endzeit der DDR: Völlig überraschend trat 1986 Spionage-chef Markus Wolf als Stellvertretender Minister für Staatssicherheit zurück, um sich anschließend als Buchautor, Gorbatschow-Anhänger und Reformer zu empfehlen. Während Erich Honecker die sowjetische Zeitschrift Sputnik verbot, weil sie die Massenmorde unter Stalin thematisierte, verfaßte Wolf ein Erinnerungsbuch über seine Exilzeit in der Sowjetunion, in dem er sich mit dem Stalinismus offen auseinandersetzte. Sein Buch wurde in der Wochenpost, der mit 1,3 Millionen Exemplaren größten Wochenzeitung der DDR, vorabgedruckt und löste zahlreiche Diskussionen aus: über den Inhalt wie über die mutmaßlichen Absichten, die sich mit der Publikation verbanden. Wolf, so wurde gemunkelt, agiere als Kopf einer parteiinternen Opposition, zu der SED-Technokraten, Angehörige des Sicherheitsapparats und sowjetische Vertrauensleute gehörten, die sich über den lebensgefährlichen Zustand der DDR keine Illusionen machten und ein reformiertes Sozialismus-Modell installieren wollten. Die Ausreisewelle, die Protestbewegung und der weltpolitische Gezeitenwechsel machten die Pläne im Herbst 1989 freilich zu Makulatur.

Wie damals die SED-Reformer argumentiert heute Thilo Sarrazin aus der eigenen Systemlogik heraus, wenn er die finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Belastungen der Zuwanderung in den Vordergrund rückt und die falsche durch eine echte „Integration“ ersetzen will. Er bleibt damit im Argumentationsrahmen der Bundesrepublik, die sich weniger als Staat denn als Gesellschaft versteht, welche sich auf moralischen Universalismus und wirtschaftlichen Erfolg gründet. Zur Beschreibung glaubhafter Alternativen ist er jedoch gezwungen, auf eine Terminologie zurückzugreifen, die über das Selbstverständnis der Bundesrepublik hinausweist. „Jeder Staat hat das Recht, darüber zu entscheiden, wer in das Staatsgebiet zuziehen darf und wer nicht.“ Zweitens seien die „westlichen und europäischen Werte und die jeweilige kulturelle Eigenart der Völker“ es wert, bewahrt zu werden.

Diese Argumentation setzt den Staat als Organisationsform voraus, durch die ein Volk sich zum politischen Handeln befähigt und seinen Selbsterhalt sichert. Die Mehrheit der Funktionseliten quittiert das mit dem gleichen aufrichtigen Unverständnis, das die SED-Betonriege empfand, wenn Kritiker sie mit dem Vorwurf konfrontierten, daß eine Macht, die sich durch Mauer und Stacheldraht rechtfertige, illegitim sei.

1985 begann Michail Gorbatschow seinen Versuch, das Sowjet-System zu retten, mit der Forderung nach „Glasnost“ (Offenheit, Transparenz) und „Perestroika“ (Umbau, Reform). Sarrazins Buch hätte wohl das Zeug, den Anfang von Glasnost einzuleiten.

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