© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/10 27. August 2010

Angriffskrieger mit Fortüne
Das „Wunder von Warschau“ brachte Polen die Wende im Polnisch-Sowjetischen Krieg 1920
Alfred Schickel

Es begann mit einem Überfall. Vor neunzig Jahren griff das 1918 wiedererstandene Polen die damals in Gründung begriffene Sowjet-union an. Der Krieg war nicht von Moskau angezettelt worden, sondern vom polnischen Staatsführer Marschall Józef Piłsudski. Dieser wollte durch einen militärischen Überraschungsschlag gegen die im blutigen Bürgerkrieg stehende Rote Armee Leo Trotzkis die vom Obersten Alliierten Rat in Paris am 8. Dezember 1919 festgelegte polnisch-russisch-ukrainische Grenze zugunsten seines Landes verändern. Piłsudski traf sich in diesem expansiven Bestreben mit allen jenen polnischen Politikern, welche die Grenze von 1919, die nach ihrem „Erfinder“, dem seinerzeitigen britischen Außenminister George Curzon, „Curzon-Linie“ genannt wurde, als eine Behinderung ihrer großpolnischen Pläne ansahen. Danach sollte Polen in seinen „historischen Grenzen“ von 1690 wiederhergestellt werden.

In der frühen Neuzeit unterstanden die Ukraine und große Teile Weißrußlands bis hinauf nach Witebsk und Smolensk der Herrschaft der polnischen Könige. Marschall Piłsudski spielte mit derartigen Planen, bei denen er auf französische Unterstützung hoffte. In Paris sah man nämlich eine Machterweiterung Polens auf Kosten des durch die inneren Unruhen erschöpften Rußland nicht ungern, spielte doch Polen in den Nachkriegskonzeptionen der französischen Außenpolitik sowohl die Rolle eines „Wächters über Deutschland“ im Osten als auch eines „Bollwerks gegenüber dem bolschewistischen Rußland“. Zur Vorbereitung seines „Ostfeldzugs“ hatte Piłsudski am 21. und 24. April 1920 ein politisches und militärisches Bündnis mit der antikommunistischen Regierung der Ukrainischen Volksrepublik unter dem Ataman Symon Petljura abgeschlossen und sich dabei der Unterstützung der antibolschewistischen ukrainischen Armee versichert.

Franzosen schützten Polens Aggressionspolitik

Diese hatte nach ihrem gescheiterten Versuch, die Ukraine für sich zu gewinnen, unter polnischem Schutz ihre restlichen Truppen auffrischen und neu formieren können. Gegen Verzicht auf Ostgalizien und Teile Wolhyniens erhielt Petljura polnische Hilfe zur Wiedereroberung der Ukraine bis zum Dnjepr und verpflichtete sich zu einer Zusammenarbeit mit Polen. Als Piłsudski am Morgen des 26. April 1920 den Befehl zum Angriff auf die sowjetrussischen Stellungen jenseits der „Curzon-Linie“, erteilte, stießen die polnischen Truppen zunächst nur auf sehr geringen Widerstand. Binnen weniger Tage drangen sie tief nach Osten vor und konnten bereits am 8. Mai 1920 siegreich in die ukrainische Hauptstadt Kiew einrücken.

In Polen, wo gemäßigte politische Kreise das militärische Unternehmen Piłsudski anfangs sehr skeptisch beurteilt hatten, schlug die reservierte Haltung in Begeisterung um. Freilich sollte die Siegesstimmung nicht lange andauern, denn schon sechs Tage nach der polnischen Eroberung Kiews trat die sowjetische Rote Armee am 14. Mai 1920 zu einer Gegenoffensive an und warf die Invasoren nach Westen zurück.

Ende Mai begann auch in der Ukraine der Angriff der Reiterarmee unter Semjon Budjonny – sein „politischer Kommissar“ war damals Josef Stalin –, welcher bald die lang auseinandergezogenen polnisch-ukrainischen Linien durchbrach und die Polen zum Rückzug zwang. Am 10. Juni 1920 mußten die Polen Kiew wieder räumen, und Bujonnys Kavallerie-Einheiten schickten sich an, in Wolhynien einzudringen. Damit waren alle von Polen eroberten Gebiete wieder in sowjetischer Hand, zumal die zweite Offensive der Roten Armee an der Nordfront unter dem Oberbefehlshaber Michail Tuchatschewskij – dem späteren sowjetischen Generalstabschef und prominentesten Opfer der stalinistischen „Säuberungen“ – die polnische Abwehrfront endgültig zum Einsturz brachte.

Der weitere Vormarsch der Roten Armee schien angesichts des Fehlens jeglicher Befestigungen an der polnischen Grenze ebenso unaufhaltsam wie drei Monate zuvor die polnische Offensive. Bereits am 14. Juli 1920 fiel Wilna, das aufgrund eines sowjetisch-litauischen Vertrags an Litauen übergeben wurde, am 19. Juli eroberten die Bolschewisten die einstige Grenzstadt Grodno, am 28. Juli schließlich Bialystok, wo als Keimzelle einer künftigen polnischen Räteregierung ein „Vorläufiges Revolutionskomitee“ ins Leben gerufen wurde.

Als sich die sowjetische Armee der Weichsel näherte und Warschau bedrohte, wandte sich die polnische Regierung an die Westmächte und bat um Hilfe. Großbritannien und Frankreich erklärten sich jedoch nicht in der Lage, den bedrängten Polen durch Truppenverstärkungen zu helfen, sondern schickten neben einigem Kriegsmaterial lediglich eine beratende  anglo-französische Militärmission nach Warschau. Zu diesem Beratergremium gehörte auch der Hauptmann Charles de Gaulle, den der französische General Maxime Weygand als einen der fähigsten operativen Köpfe mit in die polnische Hauptstadt genommen hatte.

Während sich diplomatische Verhandlungen zwischen Sowjetrußland und der Republik Polen abzeichneten, arbeitete die polnische Armeeführung zusammen mit der anglo-französischen Beraterkommission eine kühne Strategie zur Abwehr des russischen Angriffs aus. Ihn nahm Marschall Piłsudski zur operativen Grundlage, als er am 16. August 1920 von Süden kommend überraschend in die ungeschützte Flanke der Armee General Tuchatschewskis nördlich Warschaus stieß. Im Laufe einer Woche verwandelte sich der Sieg der Roten Armee in eine schwere Niederlage; ihre weit nach Westen vorgedrungenen Divisionen wurden abgeschnitten und mußten, um ihrer Gefangennahme oder Vernichtung zu entgehen, auf ostpreußisches Gebiet übertreten.

Ein „Wunder an der Weichsel“, wie diese Schlacht später in Polen beschrieben wurden, ist sie nicht gewesen. Schließlich war das militärische Kräfteverhältnis im August 1920 für Polen günstig. Zudem hatte der Kampfwert der sowjetischen Truppen beim Vormarsch stark gelitten. Weitere Niederlagen, welche die Bolschewiken auf ihrem Rückzug noch hinnehmen mußten, zwangen sie zum Waffenstillstandsvertrag, dem bald Friedensverhandlungen folgten.

Da auch die Ukraine in den Krieg verwickelt war, entsandte die Kiewer Regierung ebenfalls eine Verhandlungsdelegation nach Riga, wo am 18. März 1921 ein Friedensvertrag unterschrieben wurde. Dieser legte fest, daß Polen eine Entschädigung von 30 Millionen Goldrubel erhalten und von allen „Schulden und Verpflichtungen gegenüber dem alten Zarenreich befreit“ werden solle. Ferner sicherten sich die Vertragspartner die gegenseitige Achtung ihrer Unabhängigkeit zu und einigten sich auf eine neue Grenze. Diese verlief nun von der Düna im Norden bis Tarnopol und dem Dnjestr im Süden. Ein Landgewinn für Polen von über 180.000 Quadratkilometer – allerdings mit überwiegend weißrussischer und ukrainischer Bevölkerung.

Der Oberste Alliierte Rat in Paris zögerte daher zunächst, diese willkürliche, weder ethnographischen noch historischen Gesichtspunkten entsprechende Grenzlinie anzuerkennen. Erst zwei Jahre später, am 15. März 1923, entschloß er sich auf Betreiben der französischen Regierung, diese neue polnisch-sowjetische Grenze als „endgültig“ zu bestätigen. Allerdings war auch diese Regelung nicht von langer Dauer, denn schon im August 1939 ließ sich Stalin von Hitler insgeheim die „Curzon-Linie“ als erneute Demarkationslinie und schließlich auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 die im Friedensvertrag von Riga verlorenen Gebiete von seinen alliierten Partnern zusichern. Als „Kompensation“ sollte Polen die deutschen Ostgebiete bis zur Oder-Neiße-Linie erhalten.

Foto: Mobilisierte polnische Soldaten ziehen an die Front, Frühjahr 1920: Eine günstige Gelegenheit, mit einem Überfall zu Lasten der im Bürgerkrieg stehenden Sowjetunion Lebensraum im Osten zu gewinnen

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