© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/10 27. August 2010

Archaische Triebe im Atomzeitalter
Berührung durch das Unbekannte: Elias Canettis „Masse und Macht“ als Kompaß für die Zukunft
Martin Lichtmesz

Es gibt Bücher, die auf den Leser wie Kälteschocks wirken und ihn zwingen, seine eigene Stellung in der Welt, ja seinen eigenen Lebenssinn von Grund auf zu überdenken. Das gilt besonders, wenn sie tief in die dunklen Schächte der conditio humana hinabführen, um die verborgenen Wurzeln der menschlichen Zivilisation aufzusuchen und freizulegen, die sich auch im Atomzeitalter aus archaischen Trieben speisen.

Zeiten, die sich über ihre primitiven Ursprünge erhaben wähnen, vergessen leichtfertig, daß am Fundament jeder Kultur die Domestizierung der Gewalt steht, und daß diese Hegung selbst nur durch Gewaltanwendung und Gewalt­androhung möglich ist, was für despotische Diktaturen ebenso gilt wie für liberale Demokratien. Der Mensch ist allerdings mehr als bloß ein kluges Raubtier mit dem Willen zur Macht, wie ihn etwa Oswald Spengler in „Der Mensch und die Technik“ beschrieben hat. Er ist auch ein transzendenzbedürftiges und     -durstiges Wesen,  ein Umstand, der ihn unendlich gefährlicher und gefährdeter macht als jedes Raubtier.

Einer, der über diese Dinge am gründlichsten nachgedacht hat, war der 1905 im bulgarischen Rustschuk als Sohn sephardischer Juden geborene Schriftsteller Elias Canetti. Zunächst mit Spaniolisch, Bulgarisch und Rumänisch aufgewachsen, wählte der spätere Nobelpreisträger, der seine prägenden Jugendjahre hauptsächlich Wien verbrachte, die deutsche Sprache zu seinem geistigen Hauptwohnsitz. Entscheidend war dabei vor allem das Deutsche verstanden als  Gegensatz „zur üblichen metaphysischen Sprache“, als  Sprache „der klarsten deutschen Schriftsteller“, etwa Lessings und Lichtenbergs. „Kaum einer wie er hat so radikal zu Ende gedacht, was die Härte der ‘Wirklichkeit’ ist,“ schrieb Armin Mohler über Canetti. „Härte“, das läßt sich hier durchaus physisch, sinnlich, taktil begreifen.

In ihrer Urform tritt die Masse als Meute auf

Canettis 1960 erschienene epochale Studie „Masse und Macht“ beginnt mit der Beschreibung einer einfachen, aber grundlegenden Erfahrung: „Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch das Unbekannte. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen oder zumindest einreihen können. Überall weicht der Mensch der Berührung durch Fremdes aus. Nachts oder im Dunkel überhaupt kann der Schrecken über eine unerwartete Berührung sich ins Panische steigern. Nicht einmal die Kleider gewähren einem Sicherheit genug; wie leicht sind sie zu zerreißen, wie leicht ist es, bis zum nackten, glatten, wehrlosen Fleisch des Angegriffenen durchzudringen.“ In der Masse aber schlägt diese profunde Urangst des Einzelnen vor der Berührung und dem Ergriffenwerden in ihr rauschhaftes Gegenteil um.

Dieses rätselhafte, gefräßige, in ständiger dynamischer Verwandlung begriffene Untier, das sich aus unzähligen Einzelwesen zusammensetzt, ein Phänomen, „nicht weniger elementar als Libido und Hunger“, unterzog Canetti einer kühlen, luziden Analyse. Wie Fritz Lang in seinen klassischen Filmen von „Die Nibelungen“ bis „Fury“ schilderte er die Masse als ein raumgreifendes Gebilde, das ständig wächst, mitreißt, ansteckt, verdichtet, polarisiert, das in eine Form gepreßt wird und dann wieder seine beschränkenden Formen, ja alle Formen überhaupt zersprengt, das wie ein Fluß über seine Ufer tritt, zerstört, nivelliert, überschwemmt und egalisiert, das sich auf seinem Höhepunkt entlädt und jäh wieder zerfällt.

Die Masse kann von einem Führer oder Demagogen aufgestachelt und dirigiert werden, aber auch eine eigene zielgerichtete Schwarmintelligenz entwickeln, sie kann als „Hetzmasse“ im Pogrom, als „Fluchtmasse“ im Zustand der Panik, als „Verbotsmasse“ im Streik oder als „Umkehrungsmasse“ in der Revolution auftauchen. In ihrer Urform tritt sie als „Meute“ bei der Jagd, im Krieg und der kollektiven Klage auf. Sie kann handfest real sein, wie auch im rein Imaginären wirken als religiöse oder wahnhafte Vorstellung von unsichtbaren Dämonenscharen oder den Totenheeren der Ahnen. Sie muß nicht einmal aus menschlichen Wesen bestehen: Auf der Ebene der Symbole erscheint sie im Bild des Waldes, des Korns, des Sandes, als Meer oder Feuer.

Um aber das Verhältnis der Masse zur Macht zu erfassen, setzt Canetti wiederum an den existentiellen, und das heißt: physischen Grundlagen des Menschseins an. Dies bedeutet nichts anderes, als daß der Mensch sterben muß und darum weiß; daß er andere Lebenwesen töten und sich einverleiben muß, um sein Überleben zu sichern, und daß er sich seinerseits in ständiger Gefahr befindet, getötet und einverleibt zu werden.

Auch hier nähert sich Canetti über ganz konkrete Detailbetrachtungen: vom Auge, das die Beute erspäht und belauert, über die Hand, die sie ergreift, die Zähne, die sie zermalmen, den Schlund, in dem sie verschwindet, bis zum Kot, als der sie ausgeschieden wird, als beschämendes Signum der schuldhaften Tat. Der Mächtige ist in seinem letzten Kern immer der erfolgreiche Töter, und „der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht“. Diese Erfahrung, massenhaft gesteigert, etwa in Form des Feldherrn, der den Feind in Massen von Toten vor sich liegend sieht, hat dem Menschen immer wieder die ekstatischen Glücks- und Machtgefühle eines Gottes verschafft.  

Die Verfügungsgewalt über Leben und Tod, seiner selbst und der anderen, ist also die Essenz der Macht schlechthin. Dies ist das düstere Arkanum, das die Sozietäten der Menschen zusammenhält: „Der Tod als Drohung ist die Münze der Macht“, am augenfälligsten ausgedrückt im Befehl, der im Ausführenden immer einen seelischen „Stachel“ zurückläßt, der auf seine Weiterreichung wartet.

Um diese Dinge zu veranschaulichen, griff Canetti vor allem auf ethnologisches Material und mythische Erzählungen zurück. Die zum Teil in voller Länge zitierten Berichte von afrikanischen Königen, orientalischen Despoten, kriegführenden Indianern, von selbst- und fremdzerstörerischen religiösen Massenpsychosen und die Phantasien von Geisteskranken wie dem berühmten Paranoiker Schreber verweisen allerdings unmißverständlich auf Dispositionen, die auch im vermeintlich zivilisierten Menschen der Moderne latent schlummern und jederzeit auf furchtbare Weise ausbrechen können.

Es war nicht nötig, direkt über die noch frisch ins Gedächtnis gebrannten Schrecken der totalitären Diktaturen mit ihren kollektiven Hysterien und Hexenjagden, ihren Kriegen und Vernichtungslagern zu sprechen: Auch sie waren im Grunde nichts Neues unter der Sonne, sondern nur besonders entsetzliche, vom technischen Zeitalter gesteigerte Emanationen der in ihrer Tiefe unveränderlichen, prähistorischen Seele des Menschen, der Canetti mit dem Schild und Schwert seiner Sprache, gleichsam als Stoiker gegenübertrat – freilich als einer, der die beschriebenen Phänomene am eigenen Leibe, als aktiver Teilnehmer ebenso wie als Opfer, erfahren hatte.

Canettis denkerisch radikaler Ansatz bedeutete auch die Preisgabe eines erheblichen theoretischen und begrifflichen Ballasts, der sich seit Gustave Le Bon und Sigmund Freud zum Thema „Masse“ angesammelt hatte. „Die übliche Entlarverpose ist ihm fremd“, schrieb Armin Mohler, „ebenso der moralisierende Reduktionsmus“. Dies hat sich als ebenso fruchtbar erwiesen wie Canettis Entscheidung, kein „aktuelles“ – also etwa ein auf die Deutung des Nationalsozialismus beschränktes –, sondern ein zeitlos-universales Werk zu verfassen.

„Wir werden ‘Masse und Macht’, so glaube ich, alle zehn Jahre von neuem lesen müssen“ schrieb Karl Heinz Bohrer 1973 in der FAZ. Folgt man seinem Urteil, wäre es fünfzig Jahre nach dem ersten Erscheinen wieder an der Zeit, die gewaltige, kaum auszuschöpfende Meditation Elias Canettis zur Hand zu nehmen und mit ihr als Kompaß furchtlos die globale Lage zu betrachten, in der rapide anwachsende Menschenmassen, ein beispiel- und rücksichtsloser Ressourcenverbrauch und weltweite gigantische Arsenale von Massenvernichtungswaffen am Anfang eines Zeitalters stehen mögen, von dem Panajotis Kondylis vermutete, es könnte zum „erschütterndsten und tragischsten in der Geschichte der Menschheit“ werden.

Elias Canetti: Masse und Macht. Band 3 der Gesammelten Werke, Hanser Verlag, München, gebunden, 584 Seiten, 34,90 Euro

Foto: Elias Canetti bei der Nobelpreis-Verleihung am 10. Dezember 1981 in Stockholm: Kühle Analyse

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