© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/10 27. August 2010

Die Psychologie der Niederlage
Über die deutsche Mentalität: Auszug aus dem neuen Buch von Thorsten Hinz

Wer die deutsche Politik danach beurteilt, ob sie den Selbsterhalt des deutschen Staates als Deutsch-Land, als Heimstatt der Deutschen sichert – ob sie im eigenen Land deren unaufhebbare Eigenrechte sichert, die keiner Begründung bedürfen und die andere Völker in ihren Grenzen genauso beanspruchen können –, der sieht sich bald auf zwei Möglichkeiten beschränkt: Er verfällt entweder in Depression, wahlweise auch in Zynismus oder Abstumpfung, die um so größer sind, weil das unterstellte Allgemeininteresse gar nicht zu existieren scheint. Jedenfalls wehren die Bürger – der „Demos“ – sich nicht oder kaum gegen eine Politik, die dieses Allgemeininteresse permanent verletzt. Im Gegenteil, sie bestätigen sie täglich durch große und kleine Plebiszite, durch ihre Gleichgültigkeit und ihre Sprache, durch ihr Medien- und Konsumverhalten.

Um das zu verstehen und – das ist die zweite Möglichkeit – Distanz zu finden, muß man das hinter den zahllosen Absurditäten stehende Gesetz entschlüsseln. Die These lautet: Die Entwicklung in Deutschland und die Mentalität, die sie stützt und duldet, gehorchen dem Gesetz der Niederlage, die Tag für Tag bestätigt, erneuert und vertieft wird.

Spontan verweist der Begriff auf das Jahr 1945, das hier nicht als „Stunde Null“ verstanden wird. Vielmehr markiert es innerhalb eines Kontinuums einen Punkt, an dem langfristige Tendenzen und Haltungen sich verdichtet und die Anhäufung von Quantitäten zu einem qualitativen Umschlag geführt haben. Danach wurde das Niederlage-Denken beherrschend und für die Gesellschaft, schließlich für den Staat und die Nation konstituierend.

Dieser Ausgangspunkt birgt die Gefahr in sich, Verlust, Verfall und Untergang auch dort zu beklagen, wo sich lediglich natürliche Veränderungen vollziehen und Lebensimpulse entladen. Umgekehrt kann die Furcht davor, einer selbstentworfenen Apokalyptik zu verfallen, ebenfalls zur Realitätsblindheit führen.

Längst verdichten die negativen Einzelbefunde sich zu Tendenzen, die auf eine Regression der Gesellschaft hindeuten, auf eine Rückentwicklung zum Primitiven. Das deutsche Bildungssystem, das zu den besten der Welt zählte und bereits im Kaiserreich für eine flächendeckende Alphabetisierung gesorgt hatte, entläßt heute immer mehr Analphabeten. Und die Entwicklung gewinnt erst an Fahrt! In den Ballungsgebieten explodiert der Anteil der Erstkläßler, die sprachliche, motorische und soziale Defizite schwerster Art aufweisen, die nicht wirklich bildungsfähig sind und es niemals sein werden. Ein rohstoffarmes Land, dessen Qualitäten auf seinen intellektuellen Vorsprüngen beruhten, leitet damit seine wirtschaftliche und soziale Verwahrlosung ein.

Die D-Mark, der bundesdeutsche Kronschatz, wurde von der politischen Klasse zu schlechten und betrügerischen Bedingungen einer europäischen Gemeinschaftswährung geopfert. Das hat im eigenen Land zum Verlust an Wohlstand geführt, ohne daß andere Länder daraus bleibenden Nutzen ziehen konnten. Die Möglichkeiten der Bundesrepublik, die Schulden minder entwickelter Partnerländer zu begleichen und sich deren – scheinbares – Wohlwollen durch finanzielle Nachgiebigkeit zu erkaufen, stoßen nun erstmals an ihre Grenzen und mit ihnen das grundlegende Politikkonzept.

Am schwersten aber wiegt der Verlust an biologischer Substanz durch sinkende Geburtenraten und Überalterung. Der Anblick kindlicher und jugendlicher Anmut wird seltener, ebenso die schöpferische Kraft, denn bahnbrechende Erfindungen und Leistungen finden eher in der vierten als in der siebten Lebensdekade statt. In einem allgemeineren Sinne kündet der Verzicht auf Kinder vom fehlenden Mut, einen neuen Anfang zu setzen.

Unbeeindruckt von dieser Entwicklung sind die in- und ausländischen Unterschichten, was die regressiven Tendenzen in der Gesellschaft zusätzlich vorantreibt. Eine aktive Bevölkerungs- und Sozialpolitik, die diesen Trend quantitativ und qualitativ umkehrt, gibt es nicht bzw. wird unter Hinweis auf Praktiken des Nationalsozialismus zurückgewiesen. Statt dessen wird eine Zuwanderung hingenommen und finanziert, die sich gleichfalls aus Angehörigen der Unterschichten rekrutiert und zu ethnisch-religiösen Parallelstrukturen führt. Diese nehmen – nicht zuletzt über ihr physisches Drohpotential aus jungen Männern – einen illegitimen Einfluß auf die deutsche Gesellschaft. Der Staat weicht auf Kosten seiner angestammten Bewohner zurück, deren staatsbürgerliche Privilegien sich in dem Maße verringern, wie ihre Steuer- und Abgabenbelastung steigt.

Zu der allgemeinen Regression ist auch die Neigung zu rechnen, derartige Entwicklungen zu ignorieren oder durch ideologische Sprachspiele unkenntlich zu machen – eine Praxis, an der bereits die DDR gescheitert ist. Der Untergang des Ostblocks, dessen Frontlinie der zweite deutsche Staat markierte, hat diese Neigung verschärft. Der Druck, den der Osten auf den Westen ausübte, hielt die Bundesrepublik davon ab, zur Gänze dem eigenen Nihilismus zu verfallen, und zwang ihr ein gewisses Maß an politischem Realismus ab. Die DDR wirkte damit für die Bundesrepublik als Notbremse, die mit der Wiedervereinigung gelöst wurde.

Es waren unter anderem die früh erkannten regressiven Tendenzen, die Arnold Gehlen auf gewollte Mißverständnisse in der Einschätzung der geschichtlichen Situation schließen ließen und zu der These von den „widerlegten Völkern“ veranlaßten: „Es ist die bedeutendste geschichtliche Leistung einer Nation“, heißt es in Moral und Hypermoral, „sich überhaupt als eine so verfaßte geschichtliche Einheit zu halten, und den Deutschen ist sie nicht geglückt. Die Selbsterhaltung schließt die geistige Behauptung und das Bekenntnis einer Nation zu sich selbst vor aller Welt ebenso ein wie die Sicherheit im großpolitischen Sinne, und diese besteht in der Macht eines Volkes, den physischen wie den moralischen Angriff auf sich unmöglich zu machen.“

Die Selbstbehauptung wird in ihr Gegenteil verkehrt durch eine Geschichts- und Gedenkpolitik, welche die eigene Geschichte radikal moralisiert, eine transzendente deutsche Schuld deklariert und damit zur materiellen und moralischen Erpressung des eigenen Landes einlädt. Das gilt auch für den merkwürdigen Schuldstolz, der eine Pervertierung nationaler Identität darstellt. Wenn weiterhin die Kontaminierungen aus der nationalsozialistischen Periode in immer tiefere Vergangenheitsschichten getrieben werden, dann ist der Beweis erbracht, daß keine Verarbeitung eines Schuldtraumas, sondern eine Neurotisierung bzw. Selbstneurotisierung stattfindet. Sicherlich gibt es vielfältige äußere Interessen, die sich daran knüpfen, aber der stärkste Antrieb dazu kommt von den Deutschen selbst.

Handelt es sich um einen Drang zum Tode? Es ist, wenn man Gehlen folgt, noch verzwickter: „Widerlegte Völker, die sich einer übermächtig fremdbestimmten Zukunft gegenübersehen, versuchen doch in weiten Verkehrs- und Meinungsräumen zu missionieren, um eine Atmosphäre der Schonung zu verbreiten.“ Die Selbstanklagen und -verkleinerungen sollen die anderen von der eigenen Gutartigkeit überzeugen und sie ihrerseits zur Güte veranlassen.

Die deutsche Vergangenheitspolitik ist in einem bestimmten Umfang zu einem Exportschlager geworden, dem vielleicht letzten, den der deutsche Geist hervorgebracht hat. Bei den Import-Nationen handelt es sich bezeichnenderweise um Länder, die im internationalen Konzert ebenfalls eher ab- als aufsteigen, doch selbst sie bestehen auf einer Singularität der deutschen Schuld. Anderen Mächten, äußeren und inneren, dienen die deutschen Schuldbeteuerungen als Waffe, die sie gegen Deutschland wenden, indem sie sich als virtuelle Opfer eines nachwirkenden nationalsozialistischen Gedankenguts drapieren.

Für sie ist die bekundete moralische Unterwürfigkeit das Einfallstor, um einen Gegner zu überwinden, der sich selbst nicht mehr für satisfaktionsfähig, und das heißt: der sich für widerlegt hält!

Fortsetzung auf Seite 16

Fortsetzung von Seite 13

Gehlens Feststellung war sowenig ein spontaner Schwächeanfall wie die Haltung, die er beschrieb. Die Mentalität läßt sich weder durch Ignoranz noch durch eine entgegengesetzte Moralisierung beheben, weil sie tiefe historische und menschliche Gründe hat. Das heißt nicht, daß sie unabänderlich ist. 1989/90 zeigte die Offenheit der Geschichte sich in einer nicht mehr für möglich gehaltenen Weise, auch wenn der Umschwung am Ende nicht gehalten hat, was er zunächst versprach.

Ein wesentlicher Grund für die Entstehung der Niederlage-Mentalität war die unglückliche Position, die Deutschland in den europäischen Hegemonialkämpfen zugewiesen war. Seine geschichtlichen Erfahrungen korrelierten mit der geographischen Lage in der Mitte Europas, die ihm kaum einmal Ruhe- und Konsolidierungsphasen gestatteten. Dieses Problem ist heute weitgehend gegenstandslos, weil – wenigstens bei sachlicher Betrachtung – ein innereuropäischer Hegemonialkampf sinnlos erscheint. Die Kämpfe um die Vorherrschaft in Europa besaßen nur so lange einen tieferen Sinn, wie die Europäer davon ausgehen konnten, daß ihr Kontinent das Zentrum der Welt bildete, wo sich das globale Schicksal entschied.

Nun, da die Gewichte sich verschoben haben und die Selbstbehauptung der europäischen Staaten nur gemeinsam möglich ist, sollte ein seelisch krankes Herzland nicht länger im Interesse der Nachbarn liegen. Diese Einsicht könnte einen Mentalitätswechsel in Deutschland erleichtern. Erschwerend wirkt inzwischen aber, daß weitere europäische Länder angefangen haben, sich ihrer Selbst­interessen zu begeben, wenigstens im Verhältnis zu den außereuropäischen Kulturen und Religionen. Insofern steht das mentale Problem Deutschlands modellhaft für ein europäisches Problem.

Thorsten Hinz: Die Psychologie der Niederlage. Über die deutsche Mentalität. Edition JF, Berlin 2010, gebunden, 204 Seiten Bis zum 30. August 2010 gilt der Subskriptionspreis von 15 Euro, danach 19,80 Euro

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