© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/10 27. August 2010

Sommerlicher Aktionismus
EU: Frankreich schiebt Hunderte Zigeuner aus Rumänien und Bulgarien in ihre Heimatländer ab / Ein europäisches Problem
Hans Christians

Dem innenpolitisch wegen diverser Affären und unpopulärer Reformen enorm unter Druck geratenen Nicolas Sarkozy könnte ein Befreiungsschlag gelungen sein. Angesichts der großen Unzufriedenheit im Land und des Wiedererstarkens des rechten Front National (FN) hat der französische Staatspräsident im Juli eine harte Gangart gegen die etwa 600 illegalen Siedlungen von Zigeunern aus den EU-Balkanländern angekündigt. Und bei diesem Versprechen hat Sarkozy sein Wort gehalten: Ende Juli beschlossen der Präsident und Innenminister Brice Hortefeux, mindestens die Hälfte der Zigeunersiedlungen abzureißen und straffällig gewordene Bewohner umgehend in ihre Heimatländer abzuschieben.

Bis Wochenbeginn wurden 132 Roma ausgewiesen beziehungsweise mittels einer Rückkehrprämie von 300 Euro pro Erwachsenen und 100 Euro pro Kind zur „freiwilligen Ausreise“ gebracht, wie es französische Politiker formulierten. In Rumänien angekommen, erklärten einige allerdings, bald wieder nach Frankreich zurückkehren zu wollen – 2009 waren ebenfalls Tausende Zigeuner ausgewiesen worden. Die Mehrheit von ihnen reiste in diesem Jahr erneut wieder ein. Durch die Osterweiterungen 2004 und 2007 wurden die Zigeuner mit schätzungsweise zehn Millionen Volkszugehörigen zur größten ethnischen Minderheit innerhalb der EU. Da die meisten Sinti und Roma sich selbst zu den „fahrenden Völkern“ zählen, ist eine genaue statistische Erhebung schwierig. Offiziell 550.000 Roma zählt beispielsweise der EU-Neuling Rumänien, tatsächlich dürften es mindestens zwei Millionen sein, da die Angabe der Volkszugehörigkeit im persönlichen Ermessen liegt.

In den ehemals sozialistischen Ländern Südosteuropas, aber auch in der Tschechei und der Slowakei ist die wirtschaftliche und soziale Situation der Zigeuner besonders schlecht. Viele suchen ihr Heil in West- und Nordeuropa, wo sie häufig wegen professioneller Bettelei, Einbruchs und Diebstahls in die Schlagzeilen geraten. In einem Brief an Sarkozy protestierte der Zigeuner-Vertreter Florin Cioabă aus Hermannstadt (Sibiu) gegen die „Vertreibung“ der Roma und die Verletzung des EU-Prinzips der Freizügigkeit: Sarkozy wolle offenbar auf ihre Kosten politisch punkten.

Einzelfallprüfung bei Ausweisung von EU-Bürgern

Zurückhaltender fielen dagegen die politischen Reaktionen in Bukarest aus. Eine kollektive Abschiebung sei weder rechtsmäßig noch europäisch, kritisierte Parlamentspräsidentin Roberta Anastase. Rumänien habe zwar „Verständnis“ für die Position Frankreichs, poche jedoch auf das Recht jedes rumänischen Bürgers, sich frei in der EU zu bewegen, erklärte Staatspräsident Traian Băsescu. Vor drei Jahren hatte Băsescu selbst noch eine aufdringliche Journalistin als „dreckige Zigeunerin“ beschimpft. In Bulgarien, der Slowakei und Ungarn gehören aggressive Äußerungen über die Zigeunerminderheit speziell in Wahlkampfzeiten zum politischen Alltagsgeschäft.

Die EU-Kommission wies unterdessen darauf hin, daß Frankreich sich bei der Ausweisung von EU-Bürgern an Brüsseler Vorgaben halten müsse. So müsse beispielsweise jeder Einzelfall geprüft werden. Man verfolge die Abschiebeaktionen „sehr aufmerksam“, hieß es aus Brüssel. Daß die neuen Maßnahmen auf soviel öffentliche Aufmerksamkeit stoßen, hat viel mit den Zuständen der französischen Innenpolitik zu tun. Schon zu Jahresbeginn wurden einige Zigeunerfamilien zur Rückkehr nach Osteuropa „überredet“.

Auch die italienische Regierung hatte vor zwei Jahren zu ähnlichen Maßnahmen gegriffen. Nach einer Einbruchsserie im Raum Kopenhagen wurden kürzlich 23 Zigeuner aus Dänemark ausgewiesen und mit einem Wiedereinreiseverbot belegt. Auch in Finnland wurde zuvor ein Zigeunerlager aufgelöst. Frankreich steht daher mit seiner Vorgehensweise keineswegs isoliert da.

Veronica Scognamiglio von Amnesty International (AI) in Brüssel kritisierte die Maßnahmen dennoch als eine „unverhältnismäßige Reaktion“ auf mehrere Gewaltausbrüche in Frankreich, in die unter anderem auch zugewanderte Zigeuner verwickelt waren. „Es gibt einen allgemeinen Trend in Europa beim Umgang mit den Roma: Man nimmt sie als ganze Gemeinschaft ins Visier und schafft sie fort“, so die AI-Aktivistin.

Der italienische Innenminister Roberto Maroni lobte hingegen das französische Vorgehen. Künftig müßten über „freiwillige Rückführungen“ hinaus auch reguläre Abschiebungen von EU-Bürgern ermöglicht werden. Allerdings besitzen etwa 80 Prozent der Zigeuner in Italien die italienische Staatsbürgerschaft. Auch das sozialistisch regierte Spanien ist von der Problematik betroffen, daher halten sich die dortigen Innenpolitiker mit Äußerungen zurück.

In Deutschland leben Schätzungen zufolge etwa 110.000 bis 130.000 Sinti und Roma. Die Probleme verursachen auch hier diejenigen aus Südosteuropa. Doch die Ausweisung von EU-Bürgern ist gemäß der „Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten“, in der Regel nur bei Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Gesundheit möglich. Die EU-Richtlinie verlangt eine Prüfung des Einzelfalls, sie erlaubt also keine Massenausweisungen. Auch der Bezug von Sozialhilfe kann speziell in den ersten fünf Jahren des regulären Aufenthalts ein Ausweisungsgrund sein – hier haben die EU-Mitgliedstaaten zumindest einen großen Ermessensspielraum.

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