© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/10 20. August 2010

Das Ende Freier Wissenschaften
Ankündigungen und Gefälligkeiten
von Jost Bauch

Wissenschaft ist der Wahrheit verpflichtet. Niklas Luhmann hat für das Wissenschaftssystem die Codierung wahr/unwahr als grundlegendes Unterscheidungsmerkmal identifiziert und festgemacht. Spätestens im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert hat sich die Wissenschaft als eigenes Funktionssystem herausgebildet, indem sie alle Überdeterminierungen von Politik und Theologie abstreifte. Damit etablierte sie sich als selbstreferentielles und autopoietisches System, das ausschließlich der Wahrheitsermittlung verpflichtet ist.

Beispielhaft steht der Konflikt von Galileo Galilei mit der Kirche für diese Übergangszeit. An der Vollgültigkeit der Codierung wahr/unwahr für das Wissenschaftssystem ändert auch die Tatsache nichts, daß der Wahrheitsbegriff im Gefolge der geschichtlichen Entwicklung auf Inhalts- und Programmebene vielfältige Wandlungen und Relativierungen erfahren hat. So wurde der pathetische Wahrheitsbegriff der mittelalterlichen Scholastik verum est ens (wahr ist das Seiende) spätestens mit Giambattista Vico durch einen eher konstruktivistischen Wahrheitsbegriff ersetzt: verum quia factum (wahr ist, was gemacht ist).

An die Stelle der Wahrheit trat ein Für-wahr-halten. Bei Kant entstand dann mit dem kritischen Rationalismus die These von der Unerreichbarkeit der Wahrheit. Wahrheit läßt sich demnach nur ex negativo bestimmen: Wir können etwas als wahr ansehen, solange es noch nicht widerlegt ist. Ohne den Stand der Wahrheit jemals zu erreichen, nähern wir uns ihr gleichsam, indem wir immer mehr wissen, was nicht der Fall ist.

Trotz dieser Relativierung und Temporalisierung von Wahrheit bleibt das grundlegende binäre Muster von wahr/unwahr gültig. Wahr ist eben das noch nicht Widerlegte, und so muß Wissenschaft alles daransetzen, sich Bedingungen auszusetzen, die Überprüfung und Widerlegung ermöglichen. Sie muß den möglichen Widerspruch, nicht die Bestätigung aufsuchen, sie muß sich Situationen aussetzen, die Widerlegung so einfach wie möglich machen. Tut sie das nicht, unterliegt sie dem Problem der Selbstimmunisierung.

Selbstimmunisierung beschreibt den Versuch, in wissenschaftliche Aussagen Mechanismen einzubauen, die Widerlegungen erschweren. Wenn beispielsweise im Marxismus die „wahren und objektiven“ Interessen der Arbeiterschaft herausgestellt und diese den empirischen Interessen entgegengestellt werden, handelt es sich um eine solche Immunisierungsstrategie, weil die wahren Interessen in keiner Weise von den empirischen – also „falschen“ – Interessen in Frage gestellt werden können. Wer wahre Interessen ohne Umweg über empirische Interessen identifizieren kann, befindet sich im heiligen Stand des Wahrheitsbesitzes und muß sich nicht dem aufwendigen Verfahren der Falsifikation aussetzen. Damit ist die Theorie erfolgreich immunisiert.

Freie Wissenschaften setzen Forschungs- und Meinungsfreiheit voraus. Nur wenn beide  vorliegen, können alle gesellschaftlich relevanten Themen Gegenstand der Forschung werden. Inhaltliche oder methodische

Tabus sind der Tod der Wissenschaften.

In den Sozialwissenschaften gibt es im Grunde zwei Verfahren, um Für-wahr-Gehaltenes von dezidierten Unwahrheiten zu unterscheiden. Das eine ist die empirische Überprüfbarkeit, wobei die Regeln und Methoden der empirischen Sozialforschung genau festlegen, wie Daten erhoben und zusammengestellt werden dürfen, damit diese dann Hypothesen über Zusammenhänge von unterschiedlichen Sozialfaktoren ermöglichen können.

Das andere ist die „Intersubjektivität“ der wissenschaftlichen Gemeinschaft, wobei in einem kompetitiven Dialog der Sachverständigen die Hypothesen abgewogen und der Kritik unterzogen werden. Die mögliche aufkommende Kritik muß dabei natürlich rational begründbar sein. Wahrheit läßt sich alleine über Gültigkeitsentscheidungen auch der Sachverständigen nicht ermitteln, über Wahrheit kann man nicht abstimmen.

Aber das Votum der Sachverständigen kann dazu führen, daß Fragestellungen und methodische Überprüfungsmechanismen neu justiert werden, um dann erneut dem Verfahren der Falsifikation unterworfen zu werden bis zu dem Zeitpunkt, wo diese Hypothesen als noch nicht widerlegt, also auf Zeit für wahr gelten können.

Dieses iterative Verfahren setzt Forschungs- und Meinungsfreiheit voraus. Nur wenn beide Freiheiten vorliegen, können alle gesellschaftlichen Themen  und alle methodischen Zugänge zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung werden. Tabus in den inhaltlichen Fragestellungen oder methodischen Arrangements sind der Tod der Wissenschaft. So sollte es jedenfalls sein.

Freiheit der Wissenschaft wiederum verlangt nach gesellschaftlicher Unabhängigkeit. Für die Wissenschaftsentwicklung der Nachkriegssoziologie im Speziellen läßt sich indes feststellen, daß sich diese in vielfältiger Weise von gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig gemacht hat. Insbesondere in den Jahren nach 1968 setzten diese Tendenzen ein. Lesenswert ist in diesem Zusammenhang das Buch von Ute Scheuch mit dem aufschlußreichen Titel „Erwin K. Scheuch im roten Jahrzehnt“.

Darin schildert sie, wie ihr Mann – der renommierte Sozialforscher Erwin K. Scheuch – in das Fadenkreuz linker und marxistischer Grüppchen geriet und seine Lehrveranstaltungen gestört und boykottiert wurden. Zum Problem der Soziologie in den 1970er Jahren wurde die Tatsache, daß sie sich zunehmend an gesellschaftlich sakrosankten Normvorstellungen orientierte. Gefragt war nicht, was der Fall ist; gefragt war, wie die Gesellschaft organisiert sein sollte. Das Bekenntnis kam vor der Analyse.

So lieferte sich die Soziologie in weiten Teilen gesellschaftlichen Trends aus, die sie wissenschaftlich verbrämt reproduzierte, anstatt diese Trends sine ira et studio wissenschaftlich zum Objekt ihres Interesses zu machen. Ihre reflektorische Distanz zum Gegenstand ihrer Forschung ging zunehmend verloren. Zu Recht bezeichnete Brigitta Nedelmann die deutsche Soziologie der Nachkriegszeit als „häßliche Wissenschaft“, die nicht etwa die Alltagspolitik analytisch durchdringt, sondern umgekehrt selbst von der Alltagspolitik inhaltlich durchdrungen und in politische Lager gespalten wird. „Statt Theoriepluralismus entsteht politische Lagerbildung“, urteilte Nedelmann rückblickend.

Mit dieser undifferenzierten Verflochtenheit zum Alltag reproduziert die Soziologie auch den Mainstream  der Political Correctness mit verheerenden ideologischen Folgen für diese Disziplin. Eine konservative Soziologie hat unter diesen Umständen keine Existenzgrundlage mehr.

Die Preisgabe wissenschaftlicher Autonomie ist nicht nur in der Soziologie beobachtbar, sie betrifft auch weite Bereiche der Naturwissenschaften. Durch die zunehmende Abhängigkeit von Drittmitteln und Forschungsgeldern bildet sich ein wissenschaftlich-massenmedial-politökonomischer Komplex, der sogar auf die Inhalte der Forschung Einfluß nimmt. Das ist zwar beklagenswert, aber in Grenzen zu akzeptieren, solange die Codierung wahr/unwahr nicht außer Kraft gesetzt wird.

Nicht hinnehmbar ist aber eine „Gefälligkeitswissenschaft“, die sich an politisch und massenmedial vorgezeichneten Vorgaben orientiert. Für die Medizin und die biotechnologische Forschung sieht Linus Geisler die Gefahr, daß sie immer mehr zu „Ankündigungswissenschaften“ mutieren. Man muß ankündigen, anpreisen, was man mit der Forschung, die man finanziert haben will, alles erreichen könnte. Grundlagenforschung ergeht sich in Phantasmen möglicher klinischer Einsetzbarkeit. 

Zum Beispiel legitimiert sich gentechnologische Forschung in wachsendem Maße mit den zukünftigen, aber noch längst nicht realisierten Heilungsmöglichkeiten von Alzheimer, Parkinson, Demenz oder ähnlichen degenerativen Erkrankungen des Nervensystems. Geisler warnt in seinem Buch „Zwischen Tun und Lassen“: „So entsteht eine unheilvolle Melange aus Perspektivenverzerrung, Hypostasierung von Forschungszielen, politischer Aufladung, Erwartungsdruck, Täuschung von Schwerkranken und ökonomischer Raffgier. Sie hat mit Freiheit der Wissenschaft nichts mehr zu tun.“

Bezeichnend ist die systemtheoretische Analyse „Dicke Kinder revisited“ von Swen Körner über die Situation der Gesundheits- und Sportwissenschaften aus dem Jahre 2008. Körner zeigt, wie die besagten Disziplinen ihre Daten dramatisieren und in unterkomplexen Index-Systemen wie den bekannten Body-Mass-Index verpacken, um bei den Massenmedien und der Politik die erwünschte Resonanz zu erzeugen. Körner: „Die Kontinuierbarkeit insbesondere projektmäßiger Auftragsforschung hängt entschieden ab von ihrer Anerkennung in außerwissenschaftlichen Resonanzkontexten, wobei das Maß sozialer Beachtung mit dem Grad an Eindeutigkeit korreliert.“

Durch die zunehmende Abhängigkeit von Drittmitteln und Forschungsgeldern bildet sich ein wissenschaftlich-massenmedial-politökonomischer Komplex. Einstmals stolze Disziplinen verkommen zu Ankündigungs- und Gefälligkeitswissenschaften.

Die Zahlen über die Verbreitung von Fettleibigkeit und Adipositas werden systematisch übertrieben und in die Höhe gerechnet; die Meßmethoden unsachgemäß simplifiziert, damit sie ein großes Bedrohungspotential für die Gesellschaft darstellen. Nur so bekommen diese Disziplinen gesellschaftliche Aufmerksamkeitsschübe. Dabei kommt es nach Körner zu einer „Inversion wissenschaftlicher Vorgehensweisen“: Das empirische Datenmaterial wird vorab  an bestehenden Bewertungspräferenzen ausgerichtet, anstatt lege artis zu verfahren und die Bewertung an den Daten auszurichten.

Durch diesen Trick gelingt es, Aufmerksamkeit in den Medien zu erzielen und Schlagzeilen wie „Die Deutschen sind zu dick“ zu initiieren. Im Endeffekt fließen die Forschungsgelder munter weiter, und ein „Nationaler Aktionsplan Ernährung und Bewegung“ wird beschlossen. Wie Luhmann wußte, kommt alles darauf an, daß man durch die Ergebnisse, die man vorlegt, die Bedingungen für eine Vertragsverlängerung erfüllt.

Andere Wissenschaften müssen sich auf das „Aufbereiten“ empirisch erhobener Daten erst gar nicht einlassen. Die Klimaforschung entwirft beispielsweise über Computersimulationen Zukunftsszenarien, die als empirische Vorwegnahme der Zukunft gelten. Dadurch kann sie ein Bedrohungspotential für die Menschheit inszenieren, das sofortiges politisches Handeln erforderlich macht. Die Politik wiederum stellt weitere Forschungsgelder bereit, damit das zukünftige Klima noch besser prognostiziert werden kann.

Wissenschaft muß in Zukunft – so die Zusammenfassung – dramatisieren, skandalisieren, aufrütteln und betroffen machen, wenn sie durch das Nadelöhr der Massenmedien hindurchklingen will. Die Massenmedien sind Katalysator, Durchlauferhitzer, Resonanzverstärker in einem. Sie schreien geradezu nach einer simplifizierenden Konzentration auf eine Formel oder Prozentzahl. Nur wer sich dem inhärenten „Druck der Zuspitzung“ fügt, hat Chancen auf Gehör und staatliche Förderung.

Im Zeitalter der massenmedialen Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche gerät die Wissenschaft in neue Abhängigkeiten. Die Gefahr ist groß, daß die bislang dominante Innenorientierung an der wissenschaftlichen Gemeinschaft durch eine verstärkte Außenorientierung ergänzt und überlagert wird. Alleine die Existenz der neuen Massenmedien und die verstärkte Abhängigkeit von Drittmitteln zwingen die Wissenschaft zur Resonanzverstärkung im außerwissenschaftlichen Raum. Rückkopplungen auf den Wissenschaftsbetrieb werden nicht ausbleiben. Um die Freiheit der Wissenschaften darf man sich sorgen.

 

Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz. Auf dem Forum schrieb er zuletzt in der JF 14/10 über die Familie als Garant der Sozialisation und Erziehung.

Foto: Galileo Galilei und die moderne Wissenschaft: Nicht religiöse, sondern politisch-mediale Abhängigkeiten überlagern die  Wahrheitsfindung

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