© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/10 13. August 2010

Gehirndoping ist Quatsch
Der Psychologe Klaus Lieb formuliert eine konservative Verteidigungslinie gegen die Praxis einer medikamentösen „Neuro-Verbesserung“
Michael Manns

Schneller, kreativer, besser: drei Tage und Nächte durchlernen, abends noch zur Party und trotzdem topfit in der Prüfung. Psychopillen machen es möglich. Immer mehr Schüler und Studenten, aber auch gestreßte Arbeitnehmer und ältere Menschen greifen zu den Hirndoping-Mitteln, um wacher und leistungsfähiger zu bleiben. Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz, diskutiert in seinem Buch „Gehirndoping“ alle wichtigen Fragen: Warum betreiben die Menschen Gehirndoping? Wie wirken die Substanzen? Welche Gefahren gibt es und wie wirksam sind natürliche Alternativen?

Und er bezieht klar Position. Eine Legalisierung von Psychopillen, die das Gehirn aufrüsten sollen, wie es auch von deutschen Experten gefordert wurde, lehnt er ab. Er warnt vor einer Gesellschaft, in der Leistungsstreben kein Limit mehr kennt. Lieb stützt seine Argumente auf eine klare Definition. Was ist Gehirndoping? „Es ist die mißbräuliche Einnahme von Medikamenten, die zur Behandlung bestimmter Erkrankungen entwickelt wurden und verschreibungspflichtig sind. Diese werden durch Gesunde mit dem Ziel der geistigen Leistungssteigerung eingenommen“, so Lieb. Dafür seien sie aber nicht entwickelt worden. Seine Definition lehnt sich eng an die Doping-Bestimmung im Sport an. Darum zählt für ihn Kaffee nicht dazu, ebensowenig Präparate wie Ginkgo biloba.

Welche Substanzen werden als „Geistesdrogen“ eingesetzt? Lieb nennt im wesentlichen den Wirkstoff Modafinil, ein Wachmacher, den Patienten mit Narkolepsie einnehmen, um ihrem Schlafzwang zu widerstehen. Geschluckt wird auch Methylphenidat, das unter dem Markennamen Ritalin bei Menschen mit Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom verschrieben wird. Hinzu kommen noch illegale Psychostimulantien wie Amphetamine, Ecstasy oder Kokain. Lieb warnt eindringlich vor den Nebenwirkungen. Die Mittel können Schlafstörungen verursachen, süchtig machen sowie psychische Krankheiten wie Psychosen oder Manien auslösen und – als Spätfolgen – Gehirnschäden hervorrufen.

Auch die Wirksamkeit zweifelt Lieb an: „Bis jetzt hat kein Medikament bei Gesundem direkt dem Gedächtnis nachhelfen, die Intelligenz steigern können. Dennoch gibt es sehr wohl Substanzen, die unsere Aufmerksamkeit, Konzentration und Wachheit verbessern. Hinzu können gegenteilige Effekte kommen. Nimmt zum Beispiel ein Chirurg, der bereits hellwach und konzentriert ist, vor der Operation noch eine Dosis ‘Viagra fürs Gehirn’ kann ihn das nur unruhig machen und seine Konzentration schwächen. Hinzu kommt die Gefahr, die eigenen Fähigkeiten falsch einzuschätzen, indem ein zu hohes Risiko eingegangen wird, wie Untersuchungen bei Probanden an einem Simulator  für Fahrleistungen ergaben.“

Lieb hat außerdem eine Studie unter Schülern und Studenten erstellt – die erste derartige Untersuchung in Deutschland. Das Ergebnis: Etwa vier Prozent der Befragten, die besonders starkem Leistungsdruck unterliegen, haben mindestens einmal im Leben leistungssteigernde Substanzen wie Amphetamine und Methylphyenidat eingenommen. Die Zahlen seien zwar niedriger als in den USA, wo sie bei etwa acht bis 15 Prozent lägen. Alarmierend sei aber, so Lieb, daß mehr als achtzig Prozent sich vorstellen könnten, eine leistungssteigernde, frei verfügbare Pille zu nehmen, wenn sie keine Nebenwirkungen hätte.

Überhaupt scheinen die USA einen Schritt weiter zu sein. Dort experimentieren Forscher mit einem Medikament, das das Angstgedächtnis auslöschen soll. Das Militär interessiert sich lebhaft dafür. Immerhin werden dort auch die Debatten intensiver geführt, und es gibt konturierte Lager des Pro und Kontra.

In Deutschland hat Ende des vergangenen Jahres eine „Siebener-Gruppe“ für einen kleinen Aufruhr gesorgt. Die sieben Juristen, Philosophen und Mediziner hatten sich im Auftrag der „Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen“ mit der Steigerung der  Gehirnleistung durch Medikamente auseinandergesetzt. Das provokative Ergebnis: Schon den Begriff „Gehirndoping“ halten sie wegen der negativen Assoziationen für falsch und ziehen den in Fachkreisen gebräuchlichen Begriff „Neuro-Enhancement“ vor, also in etwa „Neuro-Verbesserung“. Die Ziele dieser Leistungssteigerung des Gehirns, so argumentieren die Wissenschaftler, seien keineswegs dubios. „Wir vertreten die Ansicht, daß es keine überzeugenden grundsätzlichen Einwände gegen eine pharmazeutische Verbesserung des Gehirns oder der Psyche gibt. Wenn jemand so ein Mittel nehmen will, dann darf er das“, resümiert Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht an der Universität Hamburg und einer der beteiligten Wissenschaftler.

Neben den ideologischen Protagonisten sind da noch die Interessen der Pharma-Industrie. Es geht um große Märkte und große Gewinne. So wurden im Jahr 2000 weltweit 13,1 Milliarden Dollar für Antidepressiva ausgegeben. 2007 waren es schon bis zu 26 Milliarden. 2006 wurden in den USA 227 Millionen Rezepte für Antidepressiva ausgegeben – 30 Millionen mehr als 2002. Der seriöse Forscher und Arzt empfiehlt während intensiver Lernphasen ausreichend Schlaf, genügend Ruhepausen im Arbeitsprozeß, sportliche Betätigung, gesunde Ernährung als Alternativen. Und Kaffee. Lieb: „Wenn Sie bis zu vier Tassen Kaffee trinken, kommen Sie gut zurecht und haben Effekte, die vergleichbar mit Amphetaminen sind.“

Klug und funktionstüchtig will uns die Pillenindustrie machen und mobilisiert die alten Menschheitsträume von der Wundermedizin und dem Wasser des Lebens. Im Verein mit der Ideologie einer libertären Ich-Gesellschaft will sie uns glücklich und autonom machen. Lieb baut die notwendige konservative Verteidigungslinie auf. Er ist hier auf der Seite des US-Intellektuellen Francis Fukuyama, der mit Blick auf die Biotechnologie schrieb: „Der ursprüngliche Zweck der Medizin ist es, die Kranken zu heilen und nicht, gesunde Menschen zu Göttern zu machen.“

Klaus Lieb: Hirndoping. Warum wir nicht alles schlucken sollten. Artemis & Winkler Verlag, Mannheim 2010, broschiert, 176 Seiten, 16,90 Euro

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