© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/10 13. August 2010

Die Imperative der Sieger
Die Vertreibung als Sprachspiel: Alliierte Propaganda und bundesrepublikanische Lebenslügen
Thorsten Hinz

Die Wochenzeitung Die Zeit hat den 60. Jahrestag der Verkündigung der Charta der Heimatvertriebenen mit einem Artikel der besonderen Art bedacht. Die Ausgabe vom 22. Juli räumt dem Berliner Literaturwissenschaftler David Oels gleich eine ganze Seite für die Kurzfassung einer Studie ein, die er in den Zeitgeschichtlichen Forschungen (Göttingen, Juni 2010) über Jürgen Thorwalds zweibändigen Bestseller „Die große Flucht“ publiziert hat. Thorwalds 1950 erschienenes Buch war das erste, das sich ausführlich mit Flucht und Vertreibung beschäftigte, es soll auch Konrad Adenauer beeindruckt haben. 2005 erlebte es bereits die 50. Auflage.

Die Überschrift verrät die zentrale Intention des Aufsatzes: „Schicksal, Schuld und Gräueltaten. Populäre Geschichtsschreibung aus dem Geist der Kriegspropaganda“. In der linken Randspalte steht groß gedruckt: „Gern wird es (Thorwalds Buch) zitiert, zum Beispiel von der CDU-Politikerin Erika Steinbach, wenn es um die Verbrechen der Vertreibung geht. Doch wieviel Dichtung steckt tatsächlich in Thorwalds Fakten?“ Oft zitiert die Vertriebenen-Präsidentin in ihren Reden den Bericht des Pfarrers Karl Seifert aus dem sächsischen Pirna, der im Mai 1945 Tausende vom tschechischen Mob massakrierte Sudentendeutsche elbabwärts treiben sah, darunter eine Familie, die an eine hölzerne Bettstelle genagelt war.

Oels bestreitet solche Schreckensberichte nicht rundweg, er konstatiert nur, der Autor habe die Vorgänge „novellenartig zugespitzt“. Thorwald hat selber eingeräumt, bestimmte Personen „lediglich als Symbol zur Darstellung der anhand von Originalberichten nachweisbaren Leiden gewählt“ zu haben: ein legitimes narratives Verfahren, um dem monströsen Material eine leserfreundliche Struktur zu geben. Ein anderes Stilmittel ist der fiktive Monolog. Oels zitiert ein Selbstgespräch General Guderians, der Hitler um Frontbegradigungen und Truppenverstärkungen zur Rettung der ostdeutschen Zivilbevölkerung bittet: „Frauen lebend an Scheunentore genagelt. Alle Frauen und Mädchen unzählige Male geschändet, Männer und Greise zu Tode gemartert.“

Alliierte Untaten haben nur „angeblich“ stattgefunden

Vordergründig übt Oels sich in Text- und Quellenkritik: Jürgen Thorwald heißt eigentlich Heinz Bongartz (1915–2006) und begann seine journalistische Karriere – was lebensgeschichtlich anders kaum möglich war –, im Dritten Reich. Während des Krieges war er ziviler Mitarbeiter in einer geschichtlichen Abteilung des Oberkommandos der Marine, für sein erstes Buch schrieb – eine Zwischenüberschrift im Zeit-Artikel hebt das ausdrücklich hervor – Hermann Göring das Vorwort. 1949 veröffentlichte er eine Serie von Vertreibungsberichten in der Wochenzeitung Christ und Welt, die „maßgeblich von ehemaligen Mitarbeitern der Propagandaabteilung des Auswärtigen Amtes“ betrieben wurde und in amerikanischen Akten als „undercover Nazi paper“ galt. Wegen der Bongartz-Artikel zog sie den Vorwurf des „Nationalismus und Militarismus“ auf sich.

Solche Assoziationsketten machen die Quellenkritik zur politischen Insinuation. Wissenschaftliche Objektivität jedenfalls hätte Oels zu der Frage verpflichtet, ob die Verfasser derartiger Aktennotizen vielleicht amerikanischen Propagandaabteilungen angehörten, die bestrebt waren, Berichte über alliierte Kriegsverbrechen zu unterdrücken bzw. zu diskreditieren. Aber Oels führt ungerührt im kleinen aus, was der Zeitgeschichtler Norbert Frei in seinem Standardwerk „Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit“ (1996) zum Konzept erhoben hat. Frei zählt darin die Imperative der alliierten Sieger auf und zetert dann, daß die Nachkriegsdeutschen sie nur widerwillig, halbherzig oder in purer Mimikry befolgt hätten. Alliierte Untaten, etwa die Folterungen deutscher Kriegsgefangener im Malmedy-Prozeß, haben natürlich nur „angeblich“ stattgefunden.

Für Oels ist es eine „besondere Pointe“, daß der von Steinbach zitierte Bericht von Pfarrer Seifert 1995 aus der Neuauflage des Thorwald-Buchs entfernt wurde, weil sich dafür keine Quellen fanden. Das führt ihn zur „Vermutung“, der Autor habe lediglich die im Dritten Reich erlernte „Propagandatechnik“ der „Emotionalisierung“ praktiziert. „So gesehen lassen sich Thorwalds Bücher und besonders das von Steinbach verwendete Beispiel weniger für die erinnernde Vergegenwärtigung erlittener Gewalt in Anspruch nehmen als für eine kritische Rekonstruktion des erinnerungspolitischen Diskurses.“

Handelt es sich bei den Vertreibungsverbrechen also weitgehend um Sprachspiele emotionalisierter Altnazis? Nun, so leicht lassen sich Bücher wie „Auge um Auge“ von John Sack oder die Vertreibungs-Dokumentation der Bundesregierung nicht vom Tisch wischen. Und diese Dokumentation ist höchst unvollständig. Nicht enthalten ist das Massaker im ostbrandenburgischen Städtchen Soldin, wo ein deutscher Offizier, der die Vergewaltigung seiner Frau verhindern wollte, einen russischen Soldaten erschoß. Daraufhin wurden 160 männliche Einwohner drei Tage lang ohne Essen und Trinken in eine Garage gesperrt und dann 120 von ihnen erschossen.

Frauen wurden an Scheunentore genagelt

Im ostpreußischen Nemmersdorf wurden Frauen zwar nicht an Bettgestelle, aber an Scheunentore genagelt; der Vorgang liegt dem von Oels zitierten Guderian-Monolog zugrunde. Doch zu Nemmersdorf gibt sich der Literaturwissenschaftler in einer Fußnote seines Ursprungstexts überzeugt: „Daß es sich dabei um eine bis weit in die Nachkriegszeit wirksame Propagandainszenierung handelte, ist erwiesen, dürfte Thorwald aber noch nicht bekannt gewesen sein. Vgl. Bernhard Fisch, Nemmersdorf, Oktober 1944, Berlin 1997.“

Über das Buch des Hobbyhistorikers Fisch hat diese Zeitung mehrmals berichtet. („Kein Erinnerungsort, nirgends“, JF 44/ 2004) Fisch hat interessante Details herausgefunden und nachgewiesen, daß sich in einigen der Nemmersdorf-Berichte Erlebtes und Gehörtes vermischen und die offizielle Zahl von 61 Toten die Opfer aus den Nachbardörfern Tutteln und Alt-Wusterwitz einschließt. Doch sein schrullenhafter Versuch, das Massaker als Mythos des Kalten Krieges darzustellen, scheitert grandios.

Der 2005 gestorbene Schriftsteller Harry Thürk, den Fisch als Zeitzeugen ausfindig gemacht hat, gehörte zu den ersten Soldaten, die am 23. Oktober 1944 in Nemmersdorf einrückten. Er berichtet von grausam zugerichteten Leichen. „An einem Scheunentor, am rechten Torflügel, war eine Frau angenagelt.“ Im Begleitbuch zu Guido Knopps ZDF-Serie „Die große Flucht“ (2001) bestätigt er seine Angaben und äußert sich auch zur Inszenierungsthese: „Erfinden mußten sie (die Propagandisten – Th. Hinz) das Ganze nicht. Leichen mußten sie auch nicht von woanders herholen – die waren da. Man hatte ihnen die Leichen und das, was dort geschehen war, sozusagen auf dem Präsentierteller serviert.“ Der Film unterschlägt diese Aussagen. So verläuft er seit Jahrzehnten in monotoner Eintönigkeit: der „erinnerungspolitische Diskurs“ der Bundesrepublik. Die Zeit und ihr neuer Autor David Oels schreiben ihn ignorant und stupide fort.

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