© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/10 13. August 2010

Medizinischer Fortschritt kostet Geld
Gesundheitspolitik: Ohne eine höhere Lebensarbeitszeit ist die Krankenversicherung nicht zu finanzieren
Jens Jessen

Das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat in seiner Studie über „Ausgabentreiber in der Gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV) die „Fehlanreize im System“ und den „medizinischen Fortschritt“ als kostenträchtig ausgemacht. Bis 2060 würden diese Faktoren die Ausgaben im umlagefinanzierten Gesundheitsbereich um rund 70 Prozent erhöhen. Das sieht nach einer Kostenexplosion aus. Die demographische Entwicklung sei, so die Analyse des IW, für die zukünftige Kostenentwicklung weitaus weniger verantwortlich, als häufig behauptet wird.

Das überrascht, denn der Bevölkerungsanteil älterer Jahrgänge wird größer. Die Anzahl junger Menschen in Deutschland verringert sich wegen der niedrigen Geburtenrate von etwa 8,25 Lebendgeborenen pro Jahr auf tausend Einwohner. Da die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau (derzeit etwa 1,35) Mitte der sechziger Jahre etwa doppelt so hoch wie heute war, wird die Zahl der Alten erheblich zunehmen.

Mehrkosten der Alten müssen die jungen Leute finanzieren

Dadurch wird sich das Durchschnitts­alter der Bevölkerung von heute 42,6 auf rund 50 im Jahr 2060 erhöhen. Der Alterungsprozeß wird in 40 Jahren beendet sein, da die in den Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts Geborenen „ausgestorben“ sind. Bei unverändertem Gesundheitszustand in den einzelnen Altersgruppen wäre eine Kostensteigerung für die GKV durch die Zunahme der alten Menschen zwischen 2010 und 2040 unvermeidbar. Die Mehrkosten müßten von einer geringeren Zahl junger Leute finanziert werden. „Bis zum Jahr 2060 werden die durchschnittlichen GKV-Ausgaben aufgrund der Alterung der Versichertengemeinschaft in realer Rechnung um 25 bis 27 Prozent steigen“, prognostiziert das IW.

Der Gesundheitszustand wird jedoch nicht unverändert bleiben. Medizinischer und technischer Fortschritt führen zu einer längeren Lebenserwartung und zu einer Verbesserung des Gesundheitszustandes im Alter. Die Bevölkerung wird wegen der zunehmenden Lebenserwartung und der sehr niedrigen relativen Geburtenhäufigkeit auch nach 2050 weiter altern. Die Erhöhung des Rentenzugangsalters auf 67 Jahre will dieser Entwicklung Rechnung tragen. Eine verstärkte Einbindung älterer Arbeitnehmer gelingt jedoch nur, wenn das Rentenalter auf 70 Jahre erhöht wird. In Südkorea liegt schon heute das tatsächliche Rentenzugangsalter bei 72, in Japan sind es 69, in Schweden 68. In Deutschland liegt der Wert knapp über 62. Durch die längere Erwerbstätigkeit wird das Produk­tionspotential erhöht, die Fähigkeiten der älteren Arbeitnehmer können genutzt werden – gleichzeitig tragen sie weiter als aktive GKV-Zahler auch mehr zur Gesundheitsfinanzierung bei.

Der Fortschritt im medizinischen Bereich kostet Geld. Andererseits verbessert er die Gesundheit, Vitalität und Erwerbsfähigkeit im Alter. In den USA haben Vergleiche in Langzeitstudien von heute 60jährigen mit Gleichaltrigen vor zwanzig Jahren eine Verschiebung der Morbidität um fünf Jahre festgestellt. Die 60jährigen von heute sind so gesund wie die 55jährigen vor 20 Jahren. Es spricht vieles dafür, daß bis 2060 eine weitere Verschiebung der Morbidität von mindestens fünf Jahren erfolgt.

Die 60jährigen von 2060 werden ein biologisches Alter von 50 Jahren aufweisen. Ein Teil der Zusatzkosten wird durch die geringeren Krankheitskosten in den höheren Altersgruppen aufgefangen. Der Produktivitätsfortschritt trägt dazu bei, die restlichen Kosten des medizinischen Fortschritts zu finanzieren. Die Rürup-Kommission ist von einem Anstieg der Arbeitsproduktivität um jährlich 1,8 Prozent ausgegangen. Damit würde sich das Sozialprodukt bis 2060 mehr als verdoppeln.

Stagnierende Gehälter gefährden die Versicherung

Entscheidend für die Aufrechterhaltung eines bezahlbaren Gesundheitswesens ist die Entwicklung der Erwerbstätigkeit und eine vernünftige Verteilung der Produktivitätszuwächse. Ein Vergleich der GKV-Ausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt zeigt, daß es zu keiner Kostenexplosion kommen muß. Der Anteil der Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung ist seit 1975 mit rund 6,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bis heute relativ konstant geblieben. Im Jahr 1992 lag der GKV-Beitragssatz im Schnitt bei 12,3 Prozent. Der aktuelle Beitragssatz von 14,9 Prozent des monatlichen Bruttoentgelts (Arbeitgeber 7 Prozent und Arbeitnehmer 7,9 Prozent) ist zudem nur die halbe Wahrheit: „Würde der Bundeszuschuß für das Gesundheitssystem – derzeit beläuft er sich auf 15,7 Milliarden Euro im Jahr – ebenfalls über Beiträge finanziert, läge der Satz bei 16,5 Prozent“, rechnet das IW vor.

Doch woher kommt die Steigerung? Ab den neunziger Jahren haben die wegbrechenden Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme aufgrund schwacher Konjunktur und anhaltend geringer Erhöhung der Löhne und Gehälter Schwierigkeiten bereitet, weil das BIP im Durchschnitt der Jahre stärker gestiegen ist als die beitragspflichtigen Einkommen je Versicherten.

Vor allem deshalb mußten die Beitragssätze in der GKV erhöht werden. Im 21. Jahrhundert haben hohe Arbeitslosigkeit und minimale Zuwächse der Löhne und Gehälter einschließlich der Zunahme sogenannter prekärer Beschäftigungsverhältnisse (die mit steuerfinanzierten Einkommenszuschüssen die Arbeitslosenstatistik beschönigen) die Defizite der GKV rasant verstärkt. Wäre der Anteil der Lohn- und Gehaltseinkommen am BIP seit Anfang der achtziger Jahre nicht gefallen, wäre auch der Beitragssatz der GKV konstant geblieben.

Auch das IW ist sich im klaren darüber, daß das Finanzierungskonzept der GKV keinen Bestand haben kann, wenn das Pro-Kopf-Wachstum der beitragspflichtigen Einkommen auf Dauer hinter dem Bruttoinlandsprodukt zurückbleibt.

Die IW-Studie „Ausgabentreiber in der Gesetzlichen Krankenversicherung“ von Jochen Pimpertz findet sich in der Vierteljahreszeitschrift „IW-Trends“ 2/10

Foto: „Finanzspritze“: Bis 2060 drohen die Kosten im Gesundheitswesen um siebzig Prozent zu steigen

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