© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/10 13. August 2010

Der Wille des Volkes ist souverän
Katalonien: Der Kampf um mehr Selbstbestimmung und mehr Autonomie gewinnt an Fahrt / Madrid in der Zwickmühle
Martin Schmidt

Katalonien ist in aller Munde. Mit dem Verbot des Stierkampfes ab dem Jahr 2012 hat das Regionalparlament nicht nur alle Tierfreunde beglückt, sondern einmal mehr gezeigt, daß es von spanischen Traditionen wenig hält. Ein weiterer Baustein zur Loslösung von Madrid, der die Ziele der Demonstration, die sich am 10. Juli durch Kataloniens Hauptstadt Barcelona bewegte, beschreibt. Über eine Million Menschen –  knapp ein Fünftel der katalonischen Bevölkerung – protestierte unter dem Motto „Wir sind eine Nation. Wir entscheiden“ für Selbstbestimmung und gegen den Entscheid des spanischen Verfassungsgerichtes, der sich gegen weitere Autonomiebestrebungen ausspricht.

Schon einen Tag vor dem Endspiel um die Fußball-WM in Südafrika, das die aus Katalanen, Kastiliern und Basken bestehende Mannschaft von der Iberischen Halbinsel für sich entschied, stand die Metropole kopf. Doch was nach Zufall klingt, ist der alltägliche Kampf zwischen Autonomie und Zentralstaat. Für Zwischentöne ist wenig Platz. Wohl gerade deshalb titelte die spanische Sportzeitung As  zu Ehren des Tores des katalanischen Spielers Carles Puyol gegen Deutschland nicht von ungefähr halb in katalan, halb in spanisch: „Visca España“. Puyol ist nicht nur der gefeierte Kapitän und Abwehrchef der spanischen Nationalmannschaft, sondern zugleich Kapitän des FC Barcelona und Stammspieler einer eigenen katalanischen Fußball-Auswahl. Mittlerweile ist er zum Propagandaobjekt sowohl für jene geworden, die aus dem WM-Erfolg  neue Legitimation für den erodierenden spanischen Zentralstaat schöpfen wollen, als auch für die katalanischen Nationalisten, für die dieser Volkssport längst eine wichtige Rolle im Loslösungsprozeß von Madrid spielt. In Katalonien finden die Spiele des FC Barcelona für gewöhnlich weit mehr Beachtung als die der spanischen Nationalmannschaft.

Ökonomisch macht Katalonien niemand etwas vor

Nur ein Zeichen für die zunehmende Entfremdung, die sich seit Monaten zuspitzt. Bereits am 11. September letzten Jahres, dem „Nationalfeiertag“ Kataloniens, demonstrierten in Barcelona 15.000 Menschen für die Souveränität und gegen die „Besetzung“ durch Spanien. An der Spitze des Protestzugs lief Joan Laporta, der Präsident des spanischen Fußballmeisters und Champion-League-Siegers FC Barcelona.

Kurz danach nahm eine Serie inoffizieller Volksabstimmungen ihren Anfang, die den basisdemokratischen Charakter der katalanischen Nationalbewegung unterstreichen sollte. Die Bewegung begann am 13. September in dem 8.000-Einwohner-Ort Arenys de Munt, wo knapp 96 Prozent der Bewohner für einen eigenen Staat stimmten. Ein offizielles Referendum der Gemeinde war auf Initiative aus Madrid gerichtlich verboten worden (Volksabstimmungen dürfen laut Verfassung nur vom spanischen Staat angesetzt werden); die Wahlbeteiligung lag auch aus diesem Grund nur bei 41 Prozent.

Im Dezember folgten ähnliche Referenden in über 160 katalanischen Gemeinden, wobei sich bei einer Wahlbeteiligung von knapp einem Drittel 94 Prozent für die Gründung eines unabhängigen Staates aussprachen. Weitere Abstimmungen in mehr als 80 Städten und Gemeinden fanden am 28. Fe­bruar statt.

All diese Entwicklungen sind von kaum absehbarer – auch außenpolitischer – Tragweite. Sie könnten dafür sorgen, daß nicht nur das baskische Problem, sondern auch die katalonische Frage international mehr und mehr Beachtung findet. Denn trotz der berühmten Reize Barcelonas und der sonnenverwöhnten Küste, wo an der Costa Brava oder auf den Balearen alljährlich Millionen ausländische Besucher ihren Urlaub verbringen, ist die eigene Kultur und Geschichte dieses seit 1659 zu einem geringen Teil auch zum französischen Staat gehörenden Landes kaum bekannt.

Nur wenigen ist der Name Jordi Pujols, des eigenwilligen früheren katalanischen Regierungschefs (1980–2003) und Motors der Eigenständigkeitsbestrebungen geläufig. Der 1930 geborene und in der Franco-Ära inhaftierte Pujol, der sich große Verdienste um die europäische Regional- und Volksgruppenpolitik erworben hat, war bis 2003 Vorsitzender der konservativ-nationalistischen Convergència i Unió (CiU). Diese errang erstmals bei den Wahlen von 1984 und 1988 die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament von Barcelona und regiert die Region heute im Rahmen einer linksnationalistischen Koalition an der Seite der Sozialisten.

Der regionalistisch gesonnenen Führung ist es in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelungen, der Zentralregierung ohne großes Aufsehen immer größere Selbstverwaltungsbefugnisse abzutrotzen – zuletzt sogar die Steuerhoheit. Im Ausland werden inzwischen schon katalanische „Botschaften“ eingerichtet. An Selbstvertrauen fehlt es Pujol (der übrigens die deutsche Schule in Barcelona besuchte), der CiU und deren Unterstützern nicht. Katalonien ist so groß wie Belgien und erwirtschaftet mit einem knappen Siebtel der Einwohnerschaft Spaniens (7,2 Millionen) rund ein Viertel des Sozialprodukts. Keine der 17 autonomen spanischen Provinzen ist ökonomisch so leistungsfähig wie das Land zwischen Pyrenäen und Mittelmeer.

Vor allem können die Katalanen auf eine lange und reiche kulturelle Tradi­tion zurückblicken, in deren Zentrum die eigene, sehr melodische Sprache steht. Aus dem Vulgärlatein entwickelt, begann diese sich bereits im 12. Jahrhundert allmählich zu einer Schriftsprache zu formen.

Im Spanischen Erbfolgekrieg ergriff das jahrhundertelang relativ eigenständige katalanisch-aragonesische Reich die Partei des österreichischen Herrscherhauses und verlor nach dessen Niederlage seine Unabhängigkeit. 1716 wurde es der spanischen Krone einverleibt. Katalanisch büßte seinen Rang als Amtssprache ein, und die katalanische Sprache und Literatur versiegte in den gebildeten Schichten fast völlig.

Erst im Zuge der Romantik und einer immer größeren wirtschaftlichen Bedeutung des Landes als Fenster Spaniens nach Europa wurden sie in der sogenannten „Renaixenca“ Mitte des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt und neu belebt. Der Dichter Jacint Verdaguer (1845–1902) und der Dramatiker Angel Guimerà (1845–1924) schufen die moderne katalanische Literatursprache und verschafften der katalanischen Literatur internationale Anerkennung. Der kulturellen Emanzipation folgte bald auch die politische. 1914 konstituierte sich eine Regionalregierung, die eine breite Infrastruktur an katalanischen Einrichtungen in allen Bereichen aufbauen konnte. Das Land wurde zu einem bedeutenden Zentrum avantgardistischer Kultur, vor allem der modernen Kunst, in Europa. Vor allem die 1930er Jahre stellten eine Blütezeit katalanischer Kultur dar, die durch die Machtübernahme des rigoros zentralistischen Franco ein jähes Ende fand.

Ein Dominostein im Zerfallsprozeß Westeuropas

Erst 1979 erhielten vier Regionen – das Baskenland, Galicien, Andalusien und eben auch Katalonien – wegen ihrer historischen Besonderheiten durch die spanische Verfassung wieder einige Sonderrechte zugesprochen, nicht zuletzt eigene Regionalregierungen. Seither hat die katalanische Autonomiebewegung viel erreicht, insbesondere die Festigung der politischen und publizistischen Vorherrschaft vor Ort. Die katalanische Sprache hat sich etabliert, respektive in weiten Landesteilen gegenüber der kastilischen Staatssprache eindeutig durchgesetzt. Selbst im Industriezentrum Barcelona, das Ziel einer Massenzuwanderung südspanischer Arbeiter war, ist sie heute vorherrschend.

Die lange Zeit im Vordergrund stehende Forderung nach weitergehenden Autonomierechten tritt zusehends in den Hintergrund und wird von den unüberhörbaren Rufen nach vollständiger Selbständigkeit übertönt. Daß sich laut jüngsten Umfragen der Regionalregierung nur etwa ein Fünftel der katalanischen Bevölkerung eindeutig für eine Sezession ausspricht, ist irreführend, da die große Mehrheit unschlüssig ist und die meinungsmachende Intelligenz eher dem regionalistischen als dem spanisch-zentralistischen Lager angehört.

Ende Juni billigte das spanische Verfassungsgericht nun große Teile des vor vier Jahren verabschiedeten Autonomie-Statuts, erklärte jedoch einzelne Punkte für verfassungswidrig. So lehnte es die im Text proklamierte eigene katalanische „Nation“ ebenso ab wie den Aufbau eines separaten Justizsystems.

Die linksnationalistischen Kräfte in der Regionalregierung in Barcelona zeigten sich empört und sehen mit dem Urteil die Alternativen zu einer eigenen Staatsgründung dahinschwinden. Ihre Haltung spiegelt sich in einem Kommentar der katalanischen Tageszeitung El Punt vom 30. Juni: „Der Wille des Volkes von Katalonien ist souverän, und kein Gerichtsbeschluß, der ihm widerspricht, kann als Akt der Gerechtigkeit verstanden werden. (...) Es ist gut, daran zu erinnern, daß dieses Statut ein Minimalkonsens ist, der dem Parlament unseres Landes entsprungen ist, mit Spanien verhandelt und vom Parlament verabschiedet, durch den Willen des Volkes in einem Referendum bestärkt und sogar vom König unterschrieben wurde. Ein einwandfrei demokratischer Prozeß, der jetzt durch ein nicht haltbares Urteil eines Gerichts, das nicht die geringste Ehrwürdigkeit hat, verunglimpft werden soll. Katalonien ist eine Nation, was auch immer ein Gerichtsbeschluß dazu sagt.“

Von außen betrachtet ist der Streit um das Autonomie-Statut vor allem als weiterer Dominostein im Zerfallsprozeß im westlichen Europa zu werten. Der Anstoß zur 1989 im Osten des Kontinents begonnenen, im Westen noch immer ausstehenden territorialen Neuordung Europas könnte schon bald in Flandern oder Schottland erfolgen – und dann auch Kataloniens Unabhängigkeit auf die Tagesordnung setzen.

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