© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/10 13. August 2010

Ein kleines Stück Schlesien
Sachsen: Seit zwanzig Jahren können sich die Schlesier westlich der Neiße wieder zu ihrer Identität bekennen
Paul Leonhard

Eine weißgelbe Fahne weht auf der Landeskrone, dem Görlitzer Hausberg. Weißgelb auch die Aufkleber an den Autos. Und wenn beim Schlesischen Tippelmarkt der Heimatverein aufmarschiert, dann tragen die Frauen niederschlesische Tracht, und die Männer halten weißgelbe Standarten hoch. Görlitz fühlt sich als schlesische Stadt, auch wenn die Grenze zwischen der Oberlausitz und Schlesien nicht an der derzeit vom Hochwasser heimgesuchten Neiße, sondern am Queiß verlief.

Während aber die Gelehrten seit 20 Jahren nicht müde werden zu streiten, ob der nördliche Teil des Landkreises Görlitz mit Hoyerswerda, Weißwasser, Bad Muskau und Niesky geschichtlich zur Oberlausitz oder zu Schlesien gehört, haben die im bei Deutschland verbliebenen Restschlesien liegenden Orte die Chance genutzt, die ihnen die Väter der 1992 beschlossenen Sächsischen Verfassung einräumten. Dort ist schriftlich fixiert, daß „im schlesischen Teil des Landes die Farben und das Wappen Niederschlesiens gleichberechtigt“ zu Landesfarben und -wappen geführt werden können.

Der Absatz ist den Demonstranten der friedlichen Revolution zu verdanken. Genauso schnell wie auf den Montagsdemonstrationen in Dresden weißgrüne Sachsen-Fahnen auftauchten, erschienen in Görlitz die niederschlesischen Farben: eine Farbkombination, die nach der Lehre der Einheitssozialisten und auch vieler westdeutscher Politiker der 68er-Generation für die Ewiggestrigen stand. Es zeigte sich, daß in Görlitz und Umgebung das Schlesische überdauert hatte. Überdies waren hier viele aus Schlesien Vertriebene heimisch geworden und hatten die Erinnerung an die Heimat bewahrt.

Ihre Verantwortung für das niederschlesische Erbe erkannten auch jene Politiker, die sich Anfang 1990 an die Erarbeitung einer Verfassung für Sachsen machten. Als Ende März der Entwurf der Dresdner „Gruppe der 20“ veröffentlicht wurde, war klar, daß das neue Sachsen aus den Bezirken Chemnitz, Dresden und Leipzig plus einigen Teilen des Bezirks Cottbus entstehen würde. Letztere umfaßten das Gebiet der einst preußischen Provinz Schlesien westlich der Neiße, das 1945 an Sachsen gegangen war.

Als 1990 die Länderneubildung diskutiert wurde, standen neben der großen Variante – aus der DDR die beiden Bundesländer Mecklenburg-Brandenburg (mit Berlin) und Sachsen-Thüringen (mit Sachsen-Anhalt) zu bilden – Forderungen nach einem Land Niederschlesien im Raum. So ist auch zu verstehen, wenn der Görlitzer CDU-Politiker Volker Bandmann bei den Verhandlungen betonte, die Formulierung „schlesischer Teil des Landes“ sei eine „absolute Minimalforderung“. Die Bevölkerung an der Neiße fühle sich nicht als Sachsen, sondern als Schlesier. Zu diesem Zeitpunkt, Anfang April 1990, hieß es im Entwurf der Präambel noch: „anknüpfend an die Geschichte der Mark Meißen, des sächsischen Staates und des ehemals niederschlesischen Gebietes ...“ Das „ehemals“ müsse weg, befanden die Schlesier.

Solche Hartnäckigkeit war aus Dresdner Sicht unverständlich. Die Erwähnung Schlesiens sei „schon wegen der Tradition erforderlich“, befand der Kirchenjurist Steffen Heitmann, der die Arbeitsgruppe Landesverfassung leitete, aber es gebe keine Provinz Schlesien mehr, und die Ober- und Niederlausitz seien bis 1815 ohnehin sächsisch gewesen. Schon mit Blick auf die Nachbarn sei der Ausdruck „ehemals“ angebracht. Hier widersprach der konservative Leipziger CDU-Politiker Volker Schimpff. In der Tschechoslowakei habe man keine Probleme mit dem Ausdruck Schlesien. Im übrigen sei zwar das Land Preußen aufgelöst worden, nicht aber die Provinz Schlesien. Die Provinznamen seien also erhalten geblieben, und Schlesien bestehe fort. Es handle sich zwar um ehemals preußische Landesteile, jedoch nicht um ehemals schlesische, schlußfolgerte der Historiker. Selbst ein SPD-Politiker versicherte, die Polen hätten kein Problem mit der schlesischen Identität der Deutschen in dieser Region.

Endgültig durchsetzen konnte sich Bandmann allerdings erst, als er die notwendige „Rehabilitierung des Begriffs Schlesien“ ins Spiel brachte. Dieser sei früher mit Rechtsradikalität verbunden gewesen. Jetzt gehe es um die Integrität. „Die Schlesier können nicht der einzige Teil des Volkes sein, der als inexistent betrachtet wird“, sagte Bandmann. „Wenn die territoriale und geschichtliche Identität unterdrückt würde, könnte das erst recht Revanchismus führen.“

Auch über ein eigenes Bundesland wurde diskutiert

Wenn man allerdings das dicke Protokoll der zweiten Klausurtagung des Verfassungs- und Rechtsausschusses von Anfang 1991 zur Verfassung liest, hat man den Eindruck, daß die Mitglieder der Arbeitsgruppe weniger von Bandmann überzeugt als der langen Diskussion um ein – aus ihrer Sicht – Randthema müde waren.

Seitdem aber lebt Schlesien am Rande Sachsens wieder, auch wenn der „Niederschlesische Oberlausitzkreis“ unlängst aufgelöst wurde. Das Schlesische ist für die Region ein touristisches Al­leinstellungsmerkmal, zieht Heimattouristen nicht nur der Erlebnisgeneration an und schafft eine Brücke in die Gebiete östlich der Neiße.

Die polnische Bevölkerung hat die schlesische Geschichte längst als die eigene akzeptiert. So ist selbstverständlich, daß beim Schlesischen Heimatfest am 21. und 22. August der Görlitzer Oberbürgermeister die Schirmherrschaft übernommen und der Vizemarschall der Woiwodschaft Oppeln sein Kommen zugesagt hat.

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