© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/10 30. Juli / 06. August 2010

Zweifel an der Auserwähltheit
Shlomo Sands brisante Thesen über die Geschichte und Mythen des jüdischen Volkes
Karlheinz Weissmann

Als im Herbst 2008 das Buch von Shlomo Sand über die „Erfindung“ des jüdischen Volkes in einer ersten europäischen Sprache – dem Französischen – veröffentlicht wurde, lag es stapelweise in den großen Buchhandlungen von Paris. Trotzdem hat, folgt man dem Vorwort zur deutschen Ausgabe, keine einzige französische Zeitung von Bedeutung das Buch rezensiert. Das ist erstaunlich, wenn man die Brisanz seiner These bedenkt, weniger erstaunlich, wenn man die Brisanz seiner These bedenkt. Denn Sand behandelt mit der jüdischen Geschichte ein Thema, das von vornherein erheblicher Aufmerksamkeit sicher sein kann, gleichzeitig aber als besonders heikel betrachtet wird, falls vorgegebene Deutungsmuster ignoriert werden. Dabei ist nicht nur die Interpretation der Judenverfolgung in der NS-Zeit oder der „Endlösung“ klar geregelt, sondern auch alles, was Ursprung und Entwicklung des Antisemitismus betrifft, das Existenzrecht Israels und dessen Begründung.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß der zuletzt genannte Punkt noch den wenigsten Konfliktstoff birgt. In der westlichen Welt gilt der Bestand Israels als undiskutierbar, in Deutschland ist er sogar Teil der Staatsräson. Die Legitimitätsfrage wird praktisch nie gestellt. Allerdings gilt dieses Tabu nicht mehr in Israel, was damit zusammenhängen mag, daß der Nimbus der Gründergeneration verblaßt und die alten Antworten kaum noch überzeugen. Die waren vor allem geprägt durch jene zionistische Großerzählung, die die ganze Geschichte der Juden als Wechselspiel von Vertreibung, Exil und Heimkehr interpretiert, angefangen beim Exodus, über die Zeit der Babylonischen Gefangenschaft, bis zur Vertreibung nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 und der bis zur Gründung des modernen Israel andauernden Heimatlosigkeit in der Diaspora.

Wenn man der Argumentation Sands folgt, dann sind alle Elemente dieser Großerzählung Mythos im schlechten Sinn, das heißt: Lüge. Die Überlieferung von Mose, der Knechtschaft in Ägypten und der Befreiung, dem Bundesschluß und der Landnahme betrachtet er als „Konstruktion“ einer jüdischen Gelehrtengruppe in der Antike, die zu einer Zeit aktiv wurde, als schon der größere Teil der Juden außerhalb des Heiligen Landes lebte, vor allem in Mesopotamien und Ägypten, was schlechterdings nicht auf die durch den siegreichen Nebukadnezar verschleppten Massen zurückzuführen sei, sowenig wie die Verbreitung jüdischer Gemeinden im Mittelmeerraum eine Konsequenz von Strafmaßnahmen der Römer nach der Niederschlagung des Aufstands in Judäa gewesen sein könne.

Dabei ist nicht neu, daß die Faktizität der Geschichtsüberlieferung des Alten Testaments in Frage steht, und Zweifel an dem ganzen Zusammenhang von den Erzvätern über Mose bis zur Herrschaft der Könige Saul, David und Salomo sind einer breiteren Öffentlichkeit mindestens seit Publikation der Bücher der Archäologen Israel Finkelstein und Neil Silberman bekannt. Aber Sand geht noch einen Schritt weiter, indem er behauptet, daß das Interpretationsmuster Exil–Heimkehr nur dem Zweck gedient habe, das Vorhandensein eines „Volkes“ zu behaupten, das in dieser Form nie bestand.

Alle Traditionen, die den exklusiven Charakter des Judentums behaupteten, sind für ihn späten Datums. Seiner Meinung nach stand am Anfang nicht die Offenbarung des einen Gottes an Abraham, die Bildung von Stämmen, die sich dann zu einem Volk vereinten, sondern die religiöse Vorstellungswelt einiger Verbände im Gebiet des alten Kanaan, die sich nur wenig von der ihrer Umgebung unterschied. Jahwe mochte damals ein Hauptgott gewesen sein, aber doch Teil eines Pantheons. Es gab keinen Monotheismus von Anfang, der bildete sich nur allmählich aus, entwickelte dann allerdings eine erstaunliche Dynamik und einen universalen Anspruch. Für Sand war das antike Judentum missionarisch und das dramatische Anwachsen der Gemeinden außerhalb Israels vor allem das Ergebnis von Konversionen, nicht einer spezifischen Fruchtbarkeit des Gottesvolkes.

Die Notwendigkeit einer schärferen Abschließung ergab sich für die Juden erst, als der Hellenismus die im Entstehen begriffene jüdische Identität mit seinen synkretistischen Glaubens- und Kulturformen bedrohte. In Reaktion darauf sei es zur Ethnogenese gekommen und spätestens in der Zeit der Hasmonäerherrschaft die Vorstellung konzipiert worden, daß Israel eine „völkische Einheit“ bilde, der man im Normalfall nicht beitreten könne, sondern in die man hineingeboren werden müsse, die sich von den Heiden fernhalte und den Tag erwarte, an dem Gott sein ganzes Volk wieder in Israel versammle. Als die Römer das Gebiet eroberten, war dieses Vorstellungsgefüge schon so weit gefestigt, daß es weder Juden noch Nichtjuden in Frage stellten, wenngleich es nach wie vor einen größeren Kreis von Sympathisanten am Rande gab, die „Gottesfürchtigen“, die sich von den ethischen Normen der „Religion des Mose“ angezogen fühlten, aber Ritualgesetz oder Beschneidung ablehnten.

In der Kirchengeschichte weiß man, daß aus dieser Gruppe viele der ersten Christen kamen, die in der neuen Lehre eine Art reformiertes Judentum sahen. Eine Anschauung, die, folgt man Sand, durchaus Plausibilität für sich beanspruchen kann, so wie auch die Feindseligkeit der Synagoge gegenüber der Kirche darin wurzelte, daß sich beide ähnlich waren, insofern beide missionierten. Nur erwies sich das Christentum als erfolgreicher und konnte seit dem 4. Jahrhundert im Bündnis mit der Staatsgewalt die Verfolgung gegen die früheren Verfolger aufnehmen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß das Judentum im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter auf der arabischen Halbinsel, in Äthiopien, Nordafrika und zuletzt noch im Kaukasusgebiet ganze Völker kollektiv bekehren konnte.

Im Bereich Arabiens wird dieser Sachverhalt durch die späteren Erfolge des Islam überdeckt, der wiederum den Juden oft als angenehmere Alternative zum Christentum erschien oder auch – wie im Fall der Eroberung Spaniens – als gegebener Bündnispartner im Kampf gegen den gemeinsamen Feind. Solche sekundären Motive der Religionspolitik spielten ohne Zweifel auch eine Rolle bei den Karäern, einem Turkvolk, dessen Oberschicht, nicht zuletzt aus dem Wunsch nach Abgrenzung gegenüber dem feindlichen Byzanz, das Judentum annahm und allmählich die jüdische Lehre ausbreitete. Sand scheut sich hier nicht, auf die Thesen Arthur Koestlers vom „dreizehnten Stamm“ zurückzugreifen, die in Israel verpönt sind, weil ihnen zufolge keine Kontinuität zwischen dem alten und dem osteuropäischen Judentum besteht, sondern die Masse der Aschkenasim Vorfahren im Gebiet des Kaukasus hatte, die im 8. Jahrhundert von jüdischen Missionaren bekehrt worden waren. Folgt man Sands Argumentation weiter, dann gilt ähnliches aber auch für die Sepharden, die in erster Linie als Nachkommen von berberischen, arabischen oder europäischen Proselyten erscheinen, aber nicht im biologischen Sinn aus dem „Samen Abrahams“ stammten.

Die politische oder ideologische Konsequenz der Argumentation Sands liegt auf der Hand: Gibt es keine „völkische“ Verbindung zwischen dem Judentum biblischer Zeiten und dem der Gegenwart, verliert die Identitätspolitik des modernen Israel ihre Basis, die darauf fußt, daß Israel ein „jüdischer Staat“ ist. Gegen die Behauptung eines uralten – wenn man so will: ewigen –, auf einer ununterbrochenen Generationenfolge beruhenden „Volkes“ setzt Sand die These von der „Erfindung“ der Judenheit. Damit mag er als Säkularer und postzionistischer Linker in Israel ein Außenseiter sein, in den herrschenden Diskursen des Westens gehört er zum Mainstream.

Das ist Shlomo Sand durchaus bewußt, und so erklärt sich nicht nur ein Teil der Selbstgewißheit, mit der er seine Auffassungen vorträgt, sondern auch die Blindheit gegenüber den Schwächen seiner These. Die liegt vor allem in dem Sachverhalt, daß zur Erfindung ein Erfinder, zur Konstruktion ein Konstrukteur gehört, er aber weder den einen noch den anderen vorweisen kann. Zwar ist bekannt, daß Völker selbst dann eine gemeinsame Herkunft annehmen, wenn diese offensichtlich fehlt, aber im konkreten Fall kann man es sich so einfach nicht machen. Die Homogenität der Juden im genetischen Sinn ist nicht mit ein paar spöttischen Bemerkungen zu erledigen, wie das Sand versucht. Damit schwächt er unnötig den Gesamteindruck auch da, wo seine Argumentation durchaus plausibel ist.

Mag der einheitliche Charakter des Judentums nicht auf einen einzigen Stammvater zurückzuführen sein, so spricht vieles für eine gemeinsame Wurzel oder doch eine relativ früh abgeschlossene Heiratsgemeinschaft. In ihrer jüngsten Ausgabe hat die politisch ganz unverdächtige Zeitschrift Nature diesen Zusammenhang behandelt und bei Untersuchung der DNA-Struktur von insgesamt 121 Angehörigen 14 jüdischer Diaspora-Gemeinden nicht nur eine deutliche Übereinstimmung mit der von Zyprioten und Drusen festgestellt, was für die Herkunft aus dem östlichen Mittelmeerraum spricht, sondern auch eine überraschende Ähnlichkeit zwischen sephardischen und aschkenasischen Juden, solchen aus dem Kaukasusgebiet und solchen aus Marokko.

Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand. Propyläen Verlag, Berlin 2010, gebunden, 506 Seiten, 24,95 Euro

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