© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/10 30. Juli / 06. August 2010

Mehr als Maschinen
Philosophie: Welchen Platz nehmen Mensch und Tier in der Schöpfungsordnung ein?
Alain de Benoist

Die Denker der Antike – Thales, Anaximander, Heraklit, Xenophon und viele andere – sahen die Welt grundsätzlich monistisch. Wo sie Gegensätze feststellten, gingen sie nicht von Dualismen aus, sondern von einer Versöhnung zwischen Unterschiedlichem. Die Antike verwechselte nicht Götter mit Menschen, Menschen mit Tieren, Tiere mit Pflanzen, Pflanzen mit unbelebter Materie, sondern stellte sie auf verschiedene Stufen in einer kontinuierlichen Entwicklung der Wahrnehmungsfähigkeit. Jedes Lebewesen, ob Mensch oder Tier, trug demnach ein Bewegungs- und Lebensprinzip in sich, eine psyche, wie die Griechen sagten. Aus dem lateinischen Begriff dafür, anima, leiten die romanischen Sprachen zugleich ihr Wort für „Tier“ ab. 

Laut Aristoteles ist der Mensch das einzige mit Vernunft (logos) begabte Tier. Man beachte, daß er nicht von einem vernunftbegabten Lebewesen spricht, sondern den Menschen ausdrücklich mit einem Tier vergleicht – um ihn im selben Atemzug vom Tier zu differenzieren. Die Seele des Menschen, so behauptet er, unterscheide sich insofern von der des Tieres, als er zum begrifflichen Denken befähigt ist und von seinen individuellen Wahrnehmungen ausgehend allgemeine Zusammenhänge herzustellen vermag.

Dieser Unterschied ist entscheidend, aber dabei relativ: Denn statt einer klaren Trennlinie zwischen Menschen- und Tierwelt werden beide durch eine Entwicklungsleiter miteinander verbun-
den, die vom Unbelebten, Unbeseelten bis hin zu den Göttern reicht. Aristoteles verstand die Welt also als Einheit, und zwar als eine hierarchisch strukturierte. 

Erst die stoische Tradition von Chrysippus bis Seneca begann eine deutlichere Grenze zwischen Menschen und Tieren zu ziehen. Den Stoikern zufolge ist einzig der Mensch imstande, allein die Vernunft über sein Handeln bestimmen zu lassen. Dagegen gehorche das Tier stets den Zwängen der „naturgegebenen Notwendigkeit“. Nichtsdestotrotz wird dem Tier weiterhin eine Seele zugestanden, die es zur Wahrnehmung, zu Sinneseindrücken, zum Empfinden von Schmerz und Freude befähigt.

Den radikalen Bruch mit diesem Weltbild vollzieht dann das Christentum, indem es den Tieren die Seele abspricht: Eine solche sei einzig dem Menschen gegeben, wiewohl ihn mit allen anderen Lebewesen die Sterblichkeit verbindet. Sie ist nicht Teil der menschlichen Natur, sondern ein Geschenk von Gottes Gnaden. Die Seele ist individuell, nicht kollektiv, und vor allem ist sie unsterblich. Im Christentum geht diese dreifache Besonderheit einher mit der Behauptung einer Einheit der menschlichen Gattung. Zwischen der Einzigartigkeit des christlichen Gottes, der Einheit der Menschenfamilie und der Herabsetzung der Tiere besteht eine eindeutige Verbindung.

Ein solches Weltbild betrachtet das Tier grundsätzlich als unfertigen Menschen, als Mängelwesen, als unvollkommene Struktur. Den Menschen trennt nun ein unermeßlicher Graben vom Rest der Schöpfung, er löst sich aus dem kosmischen Zusammenhang und entsolidarisiert sich von seiner natürlichen Umwelt. Dieser Bruch sollte schwerwiegende Folgen zeitigen, die ihre entschiedenste Ausprägung in der cartesianischen Philosophie finden.

Der französische Philosoph René Des­cartes schloß nicht nur ein für allemal die Möglichkeit aus, daß Tiere eine Seele haben könnten; er ging noch weiter, indem er sogar die These verneinte, der zufolge das Lebendige über dem Unbelebten steht. Laut Descartes ist die Seele nicht mehr Träger des Lebensprinzips, sondern nur noch der Befähigung zum Denken. „Ich denke, also bin ich“ heißt, daß das menschliche Sein primär nicht im Leben, sondern im Denken besteht. Zwischen Körper und Seele besteht keinerlei naturgegebene Beziehung: Die Seele ist ganz und gar Geist, der Körper ganz und gar Materie.

Ein doppelter Dualismus also: Der Mensch ist selber zweigeteilt, und er ist so radikal wie nie zuvor von den Tieren getrennt. In jenen sieht Descartes nichts weiter als fühllose Maschinen. Sie seien weder zum Denken fähig, schlußfolgert er, noch zur Wahrnehmung oder dazu, Freude und Leid zu empfinden. Das Gejaule eines geprügelten Hundes erklärt er rein mechanisch: Die Stockschläge lösten ein Zittern der Nerven aus, das zur Aufblähung der Backen führe, und der ausgestoßene Atem bringe dann die Stimmbänder zum Vibrieren. Soweit Descartes’ Lehre von der „Maschine Tier“.

Selbstverständlich wirft sie mehr Fragen auf, als sie jemals zu lösen vermag. Wenn Seele und Körper nicht in einer naturgegebenen Verbindung zueinander stehen, wie können sie dann koexistieren? Dennoch hat der Descartes’sche Dualismus sich dauerhaft in allen möglichen Bereichen durchgesetzt: in der Trennung zwischen Körper und Seele, Mensch und Natur, Geist und Materie, Vernunft und Gefühl, Freiheit und Determinismus, angeborenen und erworbenen Fähigkeiten, Natur und Kultur, Sein und Werden, Instinkt und Moral, Notwendigkeit und Freiheit usw. Statt unterschiedliche Aspekte desselben gedanklichen Zusammenhangs zu beschreiben, werden diese Begriffspaare als unauflösliche Gegensätze dargestellt. Die Befürwortung des einen bedeutet dann automatisch die Abwertung oder Verneinung des jeweils anderen.

Descartes’ Einfluß auf die Nachwelt schlägt sich auf dreierlei Art nieder. Zum einen gibt es Denker, die seiner These von der „Maschine Tier“ folgen, dabei aber die strikte Trennung zwischen Mensch und Tier ablehnen. Andere stimmen der Ansicht zu, daß Tiere keine Seelen haben, leugnen aber zugleich die Existenz einer menschlichen Seele und werfen die Vorstellung von der „Maschine Tier“ zugunsten einer Einheit aller Lebewesen über Bord. Eine dritte Position wiederum übernimmt den Gedanken eines grundsätzlichen Unterschieds zwischen Mensch und Tier, gibt ihm allerdings eine vollkommen andere Deutung als Descartes.

Der erstgenannten Richtung sind manche Denker des 17. und 18. Jahrhunderts zuzurechnen, Mechanisten wie La Mettrie, die bemüht waren, menschliche Phänomene zu erklären, ohne die Seele ins Spiel zu bringen. Dieser Weltanschauung zufolge sind Mensch und Tier gleichermaßen nichts weiter als Maschinen. Diese These hat den Vorzug, den Menschen wieder in die Schöpfungsordnung zu integrieren – in eine Schöpfungsordnung freilich, der sämtliche Eigenschaften des Lebendigen abgehen.

Die zweite Richtung findet Ausdruck im biologistischen Ansatz, der den Menschen mit Hilfe der Evolutionslehre nach Lamarck und Darwin als hochentwickeltes Tier versteht. Damit erhält er ebenfalls seinen Platz in der Schöpfungsordnung zurück, grundsätzlich bleiben die Vertreter dieser Denkströmung jedoch dem Descartes’schen Rationalismus und Reduktionismus verhaftet.

Eine dritte Gruppe bilden die Kantianer, die auf eine Spezifik des Menschen pochen, die darin liege, daß er sich kraft seiner Vernunft jeglicher „naturgegebener“ biologischer Determination zu entziehen vermag. Der Mensch, so ihr Argument, sei erst zum Menschen geworden, indem er den Bruch mit dem Tierreich vollzog, und seine „Menschenwürde“ bestehe eben darin, sich über die Natur zu erheben.

In seiner „Abhandlung über die Tiere“ (Traité des animaux, 1755) schreibt der französische Geistliche Étienne Bonnot de Condillac: „Es wäre kaum wissenswert, das Wesen der Tiere zu ergründen, wenn es nicht ein Mittel wäre, unser eigenes Wesen zu ergründen.“ Tatsächlich hat jede Erörterung über das Tier Implikationen für das Verhältnis des Menschen zu sich selbst – sei es, daß er sich als Tier zu begreifen beginnt oder aber sich von den Tieren entsolidarisiert. Indes ist dies lediglich ein Einzelaspekt eines größeren Problemzusammenhangs, bei dessen Erforschung ungeheuer viel auf dem Spiel steht – philosophisch, wissenschaftlich, ideologisch, religiös. Es geht nämlich um die Frage, welchen Platz und welche Rolle der Mensch in der Natur einnimmt.

 

Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften „Nouvelle École“ und „Krisis“.

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