© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/10 30. Juli / 06. August 2010

CD: Klassik
Meditation
Jens Knorr

Gleich im ersten Präludium C-Dur taucht in Verkleidung eines Sarabandenrhythmus eine musikalische Formel auf, die in Dmitri Schostakowitschs kompositorischem Denken Gewalt codiert, sei es die sexuelle gegen Katerina Ismailowa, die Hauptfigur seiner zweiten Oper „Lady Macbeth des Mzensker Rayons“,  sei es die politische des Diktators Stalin gegen den getreuen musikalischen Chronisten seines Terrors. Der russische Pianist Alexander Melnikow nimmt die Formel zuerst nachdenklich,  dann dringlich fragend, schließlich versöhnlich (?) aufgelöst, als müsse er sie – wie auch das ganze Präludium – aus der Tiefe des Vergangenen oder des Innern mehr und mehr in die Gegenwart heraufholen.

Alba und Egmont, Stalin und Schostakowitsch? In jedem der 24 Präludien und jeder der 24 Fugen op. 87 erscheinen Strukturelemente und Ausdrucksintention so sehr ineinander verschränkt, keines aus dem andern erklärbar, daß denn auch dieses Werk des Komponisten seit seinem Vorspiel vor dem Komponistenverband im April und Mai 1951 die gegensätzlichsten Reaktionen hervorgerufen hat, je nachdem, wo sich der Reagierende jeweils verortete.

Als Schostakowitsch 1950 das Leipziger Bachfest besuchen, einen Vortrag halten und in der Jury des Bachwettbewerbs sitzen durfte, war er wohl schon entschlossen, die „phantastische Tradition“ des „Wohltemperierten Klaviers“ fortzusetzen. Nach seiner Rückkehr schrieb er vom 10. Oktober 1950 bis zum 25. Februar 1951 den zweiteiligen Zyklus der Fugen und Präludien. Es war die Siegerin des Bachwettbewerbs Tatjana Nikolajewa, die sie noch während ihrer Entstehung einstudierte, erstmals als Gesamtzyklus aufführte und auf dem Konzertpodium durchsetzte. Ihr sind sie gewidmet.

Die Nikolajewa hat den Zyklus zweimal im Studio aufgenommen, und obwohl es inzwischen eine Vielzahl von Einspielungen gibt, darunter die populäre von Keith Jarrett, ist ihre erste Aufnahme die klassische und maßgebliche geblieben. Nikolajewa stellte – in der Zeit der zweiten Kampagne gegen den Komponisten – die Klassizität des Zyklus heraus und diesen in die große europäische Tradition des Komponierens hinein. Galt Schostakowitsch jenseits und diesseits des Eisernen Vorhangs als Staatskomponist, einmal mit negativen, einmal mit positiven Vorzeichen, so hat sich das Bild in den letzten Jahrzehnten derart gewandelt, daß bald jedes seiner Werke auf eine „Botschaft“ wider den Stalinismus reduziert wird. Der Pianist Alexander Melnikow, 1973 in Moskau geboren, rückt die Komposition in den Mittelpunkt, und vor allem Ergründeln, was uns der Komponist mit seiner Musik sagen wollte, die Eigenaussage der Musik (harmonia mundi HMC 902019).

Melnikow faßt den Zyklus als „eine eigene Spielart ‘meditativer Musik’“ auf. Er besteht auf dem eingeschrieben Biographischen, ohne es der musikalischen Faktur überzuordnen. Er deutet jedes der 48 Stücke als je eigene Meditation über musikalische und außermusikalische Fragestellungen aus, ohne sie gleichzurichten und doch mit geheimnisvollen Fäden verwebend. Er beläßt ihnen ihre Vieldeutigkeit.

Ein erklärendes Interview auf der Bonus-CD, das Andreas Staier mit Alexander Melnikow geführt hat, lenkt unaufdringlich auf das Opus magnum hin, das der Bach des 20. Jahrhunderts in so unfaßbar kurzer Zeit niedergeschrieben hat.

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