© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/10 30. Juli / 06. August 2010

Pankraz,
Schopenhauer und die Kunst des Altwerdens

Gott bewahre mich vor der Anmaßung der Alten, die jeden für einen Esel halten, der nicht grau ist.“ Solche Sätze liest man gern in Zeiten der überalterten Gesellschaft und der umgekehrten Alterspyramide. Das Buch „Senilia“ von Arthur Schopenhauer, aus dem Nachlaß „erstmals vollständig“ herausgegeben von Franco Volpi und Ernst Ziegler und soeben erschienen im Münchner Verlag C.H. Beck, ist voll von solchen Sätzen. Es wirkt wie eine erfrischende Dusche in sommerlicher Gluthitze. Einen besseren Beitrag zum Schopenhauerjahr (150. Todestag) hätte man sich schwer ausdenken können.

An sich läßt sich ja über mangelnde Literatur zur „Altenfrage“ nicht klagen. Es wimmelt von Ratgebern fürs Gesundbleiben in höheren Semesterlagen, von Betreuungsbroschüren für Alzheimergefährdete, von Reiseführern für unternehmungslustige Seniorengruppen. Aber was  bisher fehlte, war das, was die „Senilia“ nun üppig bieten: höchst witzige, oftmals sarkastische und maliziöse Aphorismen und Kurzessays über eine „Kunst des Altwerdens“, geschrieben von einem selber Alten, der sich und Seinesgleichen nicht schont und dabei dennoch nie die Contenance und den guten Geschmack verliert.

Natürlich ist auch bei ihm die Gesundheit zentrales Thema. „Neun Zehntel unseres Glückes beruhn allein auf der Gesundheit“, schreibt er, und er verschließt keineswegs die Augen davor, daß Altern vor allem Krankwerden bedeutet, und zwar letztlich unheilbares Krankwerden, Krankheit zum Tode. Es kommt in der Kunst des Altwerdens also primär darauf an zu lernen, mit der Krankheit umzugehen, sie nicht nur medizinisch, sondern auch mental soweit wie möglich in Schach zu halten, sie keine Macht über die Freiheit des Geistes gewinnen zu lassen.

Das probateste Mittel dazu, findet Schopenhauer, ist das Sich-für-andere-Interessieren beziehungswiese Sich-für-anderes-Interessieren. Das ewige Herumwühlen in der eigenen Befindlichkeit hingegen führt zu nichts. Der Alte sollte in einer vertrackten Weise „wieder Kind werden“. Das bedeutet keineswegs, er soll kindlich oder gar kindisch werden und sich auf jung schminken,  sondern er soll das Erkennen wieder über das Wollen stellen.

Kinder, sagt Schopenhauer, „verhalten sich viel mehr erkennend als wollend. (…) Wir haben in der Kindheit nur wenige Beziehungen und geringe Bedürfnisse, also wenig Anregung des Willens: der größere Teil unsers Wesens geht demnach im Erkennen auf. Der Intellekt ist, wie das Gehirn, welches schon im siebenten Jahre seine volle Größe erreicht, früh entwickelt, wenn auch nicht reif, und sucht unaufhörlich Nahrung in einer ganzen Welt des noch neuen Daseins, wo alles, alles, mit dem Reize der Neuheit überfirnißt ist.“

Später dann, in Jugend und Reife, siegt eindeutig das Wollen über das Erkennen. Man glaubt nun halbwegs zu wissen, was Sache ist, und „will“ nur noch: Sex, Macht, Reichtum, Ruhm (wir sagen dazu heute „Medienpräsenz“). Man lernt nur noch, was einem beim Verwirklichen von Zielen nützt, und das heißt auch: Man schließt sich ab gegen die Fülle des Lebens, fällt in Routine. Wer dann pensioniert wird oder sonst seinen Job verliert, weil er „die Altersgrenze erreicht“ hat, der wird gewissermaßen aus der Kurve getragen und plumpst zwischen alte Reifen.

Wer sich aber schon in den Zeiten des puren Wollens klugerweise gegen jeden Routinebetrieb gewappnet hat, der genießt Feldvorteil. Die Kunst besteht nun darin, seine geistige Offenheit bedachtsam auszuweiten. Viele, auch kluge, Alte glauben ja, sie wüßten jetzt – da sie doch alle Höhen und Tiefen des Lebens absolviert haben – genau Bescheid über dessen falsche Versprechungen und Vergeblichkeiten und brauchten nichts mehr zu lernen, könnten in aller Ruhe den Besserwisser und Weisen vom Berge spielen. Doch genau das, sagt Schopenhauer, führt in die Verkalkung.

Man sollte sich rechtzeitig klarmachen, sagt er, daß das Leben ein „gestickter Stoff“ ist, „von welchem jeder, in der ersten Hälfte seiner Zeit, die rechte, in der zweiten aber die Kehrseite zu sehn bekommt. Letztere ist nicht so schön, aber lehrreicher; weil sie den Zusammenhang der Fäden erkennen läßt.“ Kluge Alte sollten diese Kehrseite intensiv und interessiert studieren, statt darüber zu klagen, daß sie die schöne Außenseite nicht mehr zu sehen kriegen. Allein darin bestehe die wahre Kunst des Altwerdens und die Chance, geistig fit und für die Jüngeren erträglich zu bleiben.

Er hat auch noch das schöne Bild: „Die ersten vierzig Jahre unsers Lebens liefern den Text, die folgenden dreißig den Kommentar dazu, der uns den wahren Sinn und Zusammenhang des Textes, nebst der Moral und allen Feinheiten desselben, erst recht verstehn lehrt.“ Die Wonnen des kunstvollen Alters sind also ziemlich beträchtlich: Es liefert den einzig verläßlichen Übertext zum Originaltext, und spätestens seit Jacques Derridas Dekonstruktionismus wissen wir ja, daß der Übertext der „eigentliche“ Text ist, das Leben an sich und überhaupt.

Letztlich ist das freilich keine Wissens-, sondern eine Glaubensfrage. Viele der Jüngeren, also der Verfertiger von Originaltexten, glauben es nicht unbesehen, halten es vielmehr für bloßes Altengeschwätz. Und da die Jüngeren zwar vielleicht bald nicht mehr (siehe Alterspyramide) die Mehrheit im Lande, aber doch weiterhin die Macht und das Sagen haben, gilt wohl, was nicht Schopenhauer, sondern sein Erzieher Goethe so ausgedrückt hat: „Der Alte verliert eins der größten Menschenrechte: er wird nicht mehr von seinesgleichen beurteilt.“

Dagegen ist leider kein Kraut gewachsen, damit muß sich auch der kunstfertigste Alte abfinden. Es sei denn, er hat in der Wollensphase seines Lebens Werke geschaffen, die wirklich dauern, die jedem Urteil standhalten, ob sie nun von Älteren oder Jüngeren kommen. Schopenhauer hat das sehr wohl gesehen. „Im Alter gibt’s keinen schöneren Trost“, resümiert er stolz, „als daß man die ganze Kraft seiner Jugend Werken einverleibt hat, die nicht mit altern.“

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