© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/10 23. Juli 2010

England war der gemeinsame Feind
Lars Hellwinkel untersucht am Beispiel des Flottenstützpunktes Brest die Zusammenarbeit der französischen mit der deutschen Kriegsmarine von 1940 bis 1945
Rolf Bürgel

Mit dem deutschen Sieg über Frankreich im Juni 1940 kamen die französische Atlantikküste und ihre Häfen in deutschen Besitz. Damit erfüllte sich ein Traum der deutschen Marine von der Schaffung einer seestrategischen Basis für den Seekrieg gegen den maritimen Hauptgegner England außerhalb der Nordsee, wie sie schon Vizeadmiral Wolfgang Wegener in einer Denkschrift 1925 gefordert hatte. Während es zur deutschen Marine umfangreiche Literatur gibt, haben die Stützpunkte selbst als logistische Grundlage nur wenig Beachtung gefunden.

Wie verliefen Aufbau und Betrieb der deutschen Marinestützpunkte im besetzten Frankreich? Welches Schicksal hatten die betroffenen französischen Werften mit ihren Tausenden von Arbeitern? Wie war es um den Widerstand der Résistance bestellt? Welche Rolle spielte die französische Marine in der Nutzung der ehemaligen französischen Kriegshäfen durch die deutsche Kriegsmarine? Diesen Fragen geht der Autor, gestützt auf umfangreiches Quellenmaterial aus französischen und deutschen Archiven, am Beispiel von Brest detailliert und faktengesättigt nach.

Das Einrichten und Betreiben der neuen Stützpunkte im besetzten Frankreich stellte die Kriegsmarine von Anfang an vor Aufgaben, die sie – personell wie materiell – völlig überforderten.  Der Katalog reichte von der Schaffung bzw. Wiederherstellung von Werftkapazitäten, Reparaturmöglichkeiten, Liegeplätzen auch für Schlachtschiffe und Kreuzer bis zu Fragen von Verpflegung und Unterbringung der Besatzungen. Unterstützung kam von unerwarteter Seite, von der französischen Marine. Dieser Zusammenarbeit zwischen der deutschen Kriegsmarine und der französischen Marine Nationale gilt das eigentliche Interesse des Autors.      

Die Häfen von Cherbourg, Brest und Lorient waren vor dem Einmarsch der deutschen Truppen Stützpunkte der französischen Marine, die auch während der gesamten Besatzungszeit in den Häfen eigene französische Marineeinheiten unterhielt. Obwohl formal Kriegsgefangene, waren die Angehörigen der Marine Nationale eine eigenständige Einheit unter dem Kommando französischer Offiziere, in französischen Uniformen und unter französischer Flagge. Dieser Sonderstatus wurde ihnen eingeräumt, weil die deutsche Kriegsmarine auf die französische Mitarbeit zwingend angewiesen war, die sich auf nahezu alle Bereiche des Stützpunktbetriebs erstreckte, von der Versorgung mit Trinkwasser und Öl, Instandsetzungsarbeiten an deutschen Schiffen, in die auch private französische Zulieferer eingebunden waren, den Schlepperverkehr zum Bugsieren großer Schiffe etc. bis zum Transport des Personals zwischen Wohnort und Arbeitsplatz. Französische Einheiten unter französischer Flagge räumten sogar Minen im Küstenvorfeld von Brest. 

Dies waren keine „Frondienste“ der französischen Marine, wie der Kieler Historiker Michael Salewski in seinem vor seinem Tod im Mai 2010 beigesteuerten „Geleitwort“ polemisch bemerkt. Als Gründe für die Kooperationsbereitschaft der Marine Nationale nennt der Autor die grundlegende Anglophobie des französischen Marineoffizierskorps, den britischen Angriff auf den Flottenstützpunkt Mers-el-Kebir nahe dem algerischen Oran und die Beschlagnahme französischer Kriegsschiffe, die sich in englische Häfen geflüchtet hatten. Vor allem wollte die französische Marine damit ihr eigenes Überleben sichern. Hier dürfte wohl auch der Grund dafür liegen, daß die Résistance in den deutschen Marinestützpunkten keine herausragende Rolle gespielt hat. 

Allen Bemühungen zum Trotz ist Brest der ihm zugedachten Bestimmung nie gerecht geworden. In der Reichweite der Royal Air Force gelegen, war der Stützpunkt ständigen Luftangriffen ausgesetzt. Es ist nie gelungen, die Schiffe ausreichend dagegen zu schützen. Nur die U-Boote konnten Brest, Lorient, Saint-Nazaire und Bordeaux, durch gewaltige Bunker aus meterdickem Stahlbeton vor Luftangriffen geschützt, erfolgreich nutzen, auch dieses nur durch die Mitarbeit der Marine Nationale.

Fair und ausgewogen in der Darstellung, ist diese gelungene Arbeit ein interessanter und wichtiger Beitrag zum Seekrieg des Zweiten Weltkriegs. Vor allem aber soll sie dem gegenseitigen Verständnis einer gemeinsamen deutsch-französischen Vergangenheit in schwerer Zeit dienen. Bezeichnenderweise wurde die Arbeit sowohl von der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel wie von der Faculté des Lettres et Sciences Sociales der Université de Bretagne Occidentale Brest als Promotionsschrift angenommen. Der Arbeit von Lars Hellwinkel ist eine Darstellung über die „Flottenstützpunkte in der deutschen Marinegeschichte“ von Guntram Schulze-Wegener vorangestellt, die nur sehr vordergründig zum Thema paßt und daher entbehrlich gewesen wäre.     

Lars Hellwinkel: Der deutsche Kriegsmarinestützpunkt Brest. Kleine Schriftenreihe zur Militär- und Marinegeschichte, Band 16. Verlag Dr. Dieter Winkler, Bochum 2010, broschiert, 278 Seiten, 2 Karten, 34,75 Euro (Einführungspreis bis 30. September: 27,80 Euro

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