© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/10 23. Juli 2010

Störung der Totenruhe
Polen: Gebeine toter Deutscher auf Müllkippe entsorgt / Friedhof und evangelische Kirche von Groß Justin bereits 1945 geschändet
Andreas Clemens

In einem Dorf in Hinterpommern, östlich der Insel Wollin gelegen, ist das Erdreich eines deutschen Friedhofs abgebaggert und auf einer wilden Müllhalde abgekippt worden. Gebeine, Schädel, Grabsteine und Sargreste haben tagelang weithin verstreut dagelegen. Nach Berichten der Stettiner Regionalausgabe der Gazeta Wyborcza sah die örtliche Verwaltung in der Friedhofsschändung kein Problem. Experten der Stettiner Gerichtsmedizin schätzen die Zahl der entehrten Toten auf dreihundert. Die polnische Polizei ermittelt.

Im Gegensatz zu dem mit Schaufelbaggern ausgehobenen Massengrab im westpreußischen Marienburg (JF 35/09) steht eines außer Frage: Die Toten vom evangelischen Kirchhof in Groß Justin (Gostyń) waren Deutsche. Die protestantische Fachwerkkirche der Ortschaft im ehemaligen Kreis Cammin (Kamień Pomorski) gibt es längst nicht mehr. 1945 wurde sie ausgeplündert, 1953 abgerissen. Die Gemeindemitglieder waren vertrieben, den nachgerückten katholischen Polen alles Deutsche verhaßt. Gemäuerreste, zu einem Hügel aufgetürmt, und zerschlagene Grabsteine, überwuchert von Unkraut, prägten seither das Bild des verheerten Gottesackers.

Die Gemeinde Schwirsen (Świerzno), zu der Groß Justin gehört, veräußerte das Grundstück 1997 als Bauland. Vor kurzem wechselte es noch einmal den Besitzer. Der neue polnische Eigner ließ Ende Juni das Gelände planieren. Über Knochenfunde in großer Zahl informierte er schriftlich das Gesundheitsamt Cammin. Das sah für eine Untersuchung des Erdreiches jedoch keinen Grund: Nach Auskunft der Gemeinde hatte man es nicht mit einem Friedhof zu tun. Von einem „Gräberfeld“, nicht aber von einem Friedhof spricht denn auch der Vizegemeindevorsteher von Schwirsen, Krzysztof Atras. „Solche Orte gibt es in Polen viele“, sagte er der Gazeta Wyborcza. „Die kann man liquidieren, so wie man auch zwanzig Jahre nicht bezahlte Grabstellen auf einem gewöhnlichen Friedhof liquidiert.“ Der Raumordnungsplan habe dort Ferienhäuser und ein Gasthaus vorgesehen.

Als sich die Denkmalpflege der Wojewodschaft Westpommern für die Angelegenheit zu interessieren begann, organisierte die Gemeinde eine Beerdigung der zum Vorschein gekommenen Knochen auf dem gewöhnlichen Friedhof von Groß Justin. Doch der evangelische Kirchhof war offenbar nur oberflächlich abgesucht worden: Anwohner schlugen Alarm, weil noch mehr Knochen umherlagen. Nachdem bereits Kinder mit den Gebeinen spielten, schalteten sich Kripo und Staatsanwaltschaft ein.

Ermittlungen im Juli erbrachten: Der Grundstückseigentümer hatte den Erdaushub des gesamten Friedhofs mit Lkw abfahren und auf einer wilden Müllkippe am Rande einer Kläranlage im nahe gelegenen Ostseebad Poberow (Pobierowo) abladen lassen. Bis vorige Woche haben Gerichtsmediziner aus Stettin und der Landesdenkmalpfleger die sterblichen Überreste von mindestens 130 Personen aus den riesigen Erdhalden exhumiert. „Eine Barbarei“, so Gerichtsmediziner Andrzej Ossowski zur Gazeta Wyborcza. Die genaue Zahl der Toten lasse sich nicht feststellen, „da wir es nicht mit vollständigen Skeletten zu tun haben, und dazu noch gibt es sehr viele Kinderknochen“.

Die Polizei hat den Grundstücksbesitzer und die Lkw-Fahrer verhört. Die Ergebnisse sind an die Staatsanwaltschaft gegangen. Falls diese das Abbaggern des Friedhofes als Störung der Totenruhe werten sollte, drohten den Tätern bis zu acht Jahren Freiheitsstrafe.

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