© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/10 16. Juli 2010

Warum wir Religion brauchen
Der Materialismus frißt seine Kinder
von Manfred Ritter

Die Religionen sind das Fundament für die Kulturen aller Völker, denn sie garantieren ein für jede Gesellschaft notwendiges Mindestmaß an allgemeinverbindlicher Moral. Vor allem liefern sie den Menschen einen Sinn für ihre Existenz, der über ein bloßes „Dahinvegetieren“ hinausführt. Kulturen können auf Dauer ohne diese gesellschaftspolitischen Bindekräfte der Religionen nicht existieren. Zumindest zeigt dies die bisherige Geschichte.

Deshalb bedroht der zunehmende Zerfall des Christentums die westlichen Industrieländer in ihren moralischen Grundfesten. Dies kann in einer Zeit, in der sich deren bisherige wirtschaftliche Kraft im Rahmen der Globalisierung immer mehr nach Asien verlagert, den Abstieg erheblich beschleunigen.

Mit dem Wegfall religiöser Bindungen sinkt die Bereitschaft, auch das Wohlergehen der Mitmenschen im Auge zu behalten. Ein immer größerer Egoismus in allen gesellschaftlichen Bereichen (besonders in Politik und Wirtschaft) ist die Folge. Dies destabilisiert die Gesellschaft, die Krisen immer weniger bewältigen kann. Deshalb ist die Erhaltung der religiösen Bindungen eine Überlebensfrage für die westlichen Staaten.

Die materialistische Propaganda, die bei uns die öffentliche Diskussion dominiert, drängt die Religion immer mehr in die Defensive. Viele Kirchenvertreter resignieren und versuchen nur noch „die Stellung zu halten“. Andere reagieren mit Dogmatismus. Den traurigsten Anblick bieten aber diejenigen, die meinen, nur durch Anpassung an den Zeitgeist überleben zu können. Sie glauben offenbar, ihre Gegner würden sie in Frieden lassen, wenn sie Gott zum  „obersten Sozialarbeiter“ ernennen.

Den meisten Kirchenvertretern fällt es schwer, der materialistischen Propaganda, die sich auf die Naturwissenschaften beruft, mit geeigneten Argumenten entgegenzutreten. Sie könnten sich zwar darauf berufen, daß den Naturwissenschaften transzendente Bereiche verschlossen sind, da sie nicht in materiellen – meßbaren – „Dimensionen“ angesiedelt sind. Wenn sich die Religionen aber hinter solchen Barrieren verstecken und den Materialisten das „Monopol“ auf die Naturwissenschaften überlassen, werden sie immer mehr in die Defensive geraten. Deshalb sollten sie sich bemühen, aus den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen Argumente zu gewinnen, die für nichtmaterielle Kräfte sprechen. Dies dürfte nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaften am besten im Bereich der Biologie möglich sein.

In dieser Auseinandersetzung mit dem Materialismus sollten auch Zweckmäßigkeitsüberlegungen diskutiert werden. Dazu gehört die eingangs erwähnte Stabilisierungsfunktion der Religionen für die Gesellschaft.

Der Zerfall des Christentums bedroht die westlichen Industrieländer in ihren moralischen Grundfesten. Dies kann in einer Zeit, in der sich deren bisherige wirtschaftliche Kraft immer mehr nach  Asien verlagert, den Abstieg erheblich beschleunigen.

Eine kritische Analyse des materialistischen Weltbildes würde auch weitere gravierende Schwächen dieser Weltanschauung aufdecken. Wenn man die Gefühlslage oberflächlicher Materialisten analysiert, wird man oft feststellen, daß sie sich – befreit von religiösen Bindungen – als „Zentrum der Welt“ fühlen. Sie verdrängen dabei die naturwissenschaftliche Erkenntnis, daß die Erde nur ein „Staubkorn“ im Universum ist und daß der Mensch deshalb hinsichtlich seiner Größe und Lebenszeit völlig bedeutungslos ist. Um sich diesem unangenehmen Gedanken einer absoluten Bedeutungslosigkeit bewußt zu stellen, bedürfte es philosophischer Größe und eines stoischen Heroismus – also Tugenden, über die nur sehr wenige verfügen. Alle anderen müßten in Depressionen geraten, wenn sie darüber konsequent nachdenken. Demgegenüber können die Religionen, für die solche Größenverhältnisse nicht entscheidend sind, dem Menschen eine Bedeutung geben, die weit über seine materielle und zeitliche Begrenztheit hinausgeht. Welche dieser Weltanschauungen ist wohl die humanere?

Die meisten Materialisten ignorieren deshalb diese unangenehmen Aspekte ihres Weltbildes und suchen sich aus den Naturwissenschaften nur das heraus, was ihre Weltanschauung stützt. Deshalb stellen sie sich auch nicht die naheliegende Frage, ob Menschen, die im universellen Maßstab winzige „Organismen“ sind, überhaupt in der Lage sein können, die Realität richtig und umfassend zu erkennen.

Auch die Naturwissenschaft hängt vom menschlich Wahrnehmbaren ab. Besteht nicht eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit, daß wir aufgrund unserer engen zeitlichen und räumlichen Begrenztheit auch vielen „wissenschaftlichen“ Illusionen erliegen? Die antike philosophische Erkenntnis: „Ich weiß, daß ich nichts weiß“ sollte deshalb auch heute noch gelten. Besonders Naturwissenschaftler, die ständig neue Erkenntnisse gewinnen, sollten sich dieser Maxime verpflichtet fühlen und deshalb für alles offen bleiben.

Die populärste „Waffe“ gegen die Religion ist die Evolutionstheorie Darwins. Dabei wird übersehen, daß es unter religiösen Gesichtspunkten unerheblich ist, wieweit Darwins Theorie der ständigen Anpassung und Weiterentwicklung des Lebens berechtigt ist. Denn eine solche Diskussion beträfe nur das Problem, wie ein möglicher Schöpfer seine Geschöpfe entstehen läßt, nicht aber die alles entscheidende Frage, ob man dazu überhaupt einen Schöpfer benötigt. Zumindest würde die Existenz eines Schöpfers nicht dadurch widerlegt, daß dieser seine Schöpfungen experimentell und mit den Mitteln der Evolution betreibt.

Auch die naturwissenschaftlich festgestellte große genetische Ähnlichkeit des Menschen mit dem Affen läßt sich nicht als Argument gegen die Religionen benutzen. Denn der vergängliche materielle menschliche Körper und seine Ähnlichkeit mit dem anderer Lebewesen kann für eine der Ewigkeit verpflichtete Religion nicht das entscheidende Kriterium für den Menschen sein, sondern seine geistige und seelische Komponente – wie immer diese auch aussehen mag.

Von wesentlich existentiellerer Bedeutung für die Kirchen ist allerdings die Frage, ob das Leben in seiner unbegrenzten Vielfalt aus einer naturgesetzlichen Zwangsläufigkeit heraus entsteht. Muß man also auf der Erde nur lange genug warten, damit nach den Naturgesetzen und dem Zufallsprinzip aus toter Materie Leben entstehen, oder bedarf es hierzu eines göttlichen Willens?

Zum Leben scheint offenbar mehr zu gehören als nur Materie. Dafür spricht unter anderem die unglaubliche Komplexität höherer Lebensformen, die über eine Organisationsstruktur verfügen, die viel umfangreicher ist als die einer Automobilfabrik. Die Frage, wie etwas Derartiges ohne einen dahinterstehenden zielgerichteten Willen entstehen kann, wird man wohl nicht mit dem Hinweis auf die für diese Entwicklung veranschlagte lange Zeitspanne begründen können.

Vor allem die Erkenntnisse der Biologie eröffnen den Blick auf die „Wunderwerke“, in denen sich das Leben in seinen vielfältigsten Formen darstellt. Je mehr man sich damit befaßt, um so mehr drängt sich der Gedanke an einen dahinterstehenden schöpferischen Geist auf. Die Reproduktion des Lebens – etwa die Entwicklung einer befruchteten Eizelle zum Menschen – und die zahllosen dazu erforderlichen biologischen Steuerungssysteme sind ohne einen steuernden „Willen“ kaum zu erklären.

Hinter dem Leben steckt ein ungeheurer Heroismus, den man mit „materiellen“ Argumenten allein nicht überzeugend erklären kann. Eines der „Wunder“ des Lebens liegt gerade darin, daß es sich trotz seiner Unvollkommenheit immer wieder kämpferisch durchsetzt – gegen die Naturgesetze, gegen die Schwerkraft und feindliches Klima. Es befindet sich in einem ständigen Abwehrkampf gegen Krankheiten und in einem Kampf um Nahrung. Jedes Lebewesen muß also pausenlos und aktiv um sein Überleben kämpfen.

Was sollte unbelebte Materie veranlassen, sich so zu organisieren, daß sie zu einem solchen unbequemen und oft als schmerzvoll empfundenen Kampf gezwungen ist? Ein aktiver „Kampf des Lebens ums Überleben“, der ein ständiges Schwimmen gegen den Strom „feindlicher“ Naturgesetze erfordert, ist daher aus einer rein materialistischen Sicht etwas „völlig Unnatürliches“ und „gegen die Naturgesetze Verstoßendes“, das sich von allem unterscheidet, was die übrige Materie kennzeichnet. Wie sollte etwas, das sich so elementar gegen das die Materie beherrschende „Trägheitsprinzip“ auflehnt, ohne einen dahinterstehenden „Programmierungswillen“ entstehen?

Hinter dem Leben steckt ein ungeheurer Heroismus, den man mit „materiellen“ Argumenten allein nicht überzeugend erklären kann. Jedes Lebewesen muß pausenlos und aktiv um sein Dasein kämpfen – gegen die Naturgesetze und gegen Krankheiten.

Auch die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen könnten ein Argument für einen solchen geistigen Hintergrund sein. Wenn man die schöpferischen Errungenschaften der großen Genies der Menschheit betrachtet, darf man bezweifeln, daß dies allein auf den Leistungen des organischen menschlichen Hirns beruht. Wer die phantastische Qualität der hier geschaffenen Werke und der dazu nötigen geistigen Arbeit richtig zu würdigen versteht, wird eher eine geistig-kreative Ebene dahinter vermuten, die jenseits eines „materiellen Organismus“ angesiedelt ist.

Die Kirchen, die ihre Gläubigen gerne mit „Wundern“ zu überzeugen versuchen, sollten sich daher auf das Leben als das weitaus größte aller Wunder konzentrieren und es ins Zentrum eines Abwehrkampfes gegen einen „blutleeren“ Materialismus stellen. Wer sich eingehender mit der biologischen und medizinischen Wissenschaft befaßt, wird auf immer neue „Wunder“ stoßen, die eine Entstehung dieser grandiosen Schöpfung als „zufällige rein materielle Evolution“ höchst unwahrscheinlich erscheinen lassen. Die Offenbarung eines göttlichen Schöpfers ist daher am ehesten im Leben selbst finden.

Wer einen Schöpfer anerkennt, muß konsequenterweise alles tun, um dessen Schöpfung zu schützen. Deshalb ist es eine primäre Aufgabe aller Religiösen, sich nach besten Kräften für die Erhaltung dieser Schöpfung einzusetzen. Ein solcher Kampf für das Leben erlaubt weder Resignation noch Bequemlichkeit, denn er dient einer höheren Instanz, die in der Ewigkeit liegt. Dies ist die edelste Aufgabe, die sich der Mensch stellen kann. Sie gibt seinem Leben einen Sinn und hilft ihm, über eine kleinliche Selbstbezogenheit hinauszuwachsen.

Natürlich könnten Materialisten die gleichen Ideale aus einem allgemeinen Humanismus heraus postulieren. Eine solche „moralische Verpflichtung“ wäre aber für viele unverbindlich. Denn wenn Leben nicht mehr als vergängliche Materie und damit letztlich ohne Sinn ist, muß man sich ihm gegenüber auch nicht moralisch verpflichtet fühlen. Diese in der materialistischen Weltanschauung unvermeidbar liegende Sinnlosigkeit macht sie langfristig destruktiv für Individuen und für menschliche Gemeinschaften. Ohne religiös begründete Verpflichtungen für das Leben und die Mitmenschen fehlen Anreize, sich in den Dienst der Gesellschaft stellen.

Wenn man das Verhalten der Führungsschichten in den westlichen Industriestaaten unter diesen Gesichtspunkten analysiert, wird man erkennen, daß das Vordringen des Materialismus einen immer hemmungsloseren Egoismus hervorbringt. Nicht die Religion, sondern gottloser Materialismus ist daher „Opium für die menschliche Gesellschaft“!

 

Manfred Ritter, Jahrgang 1941, ist Jurist (Regierungsdirektor a. D.) Er hat zwei Bücher  über  über den Asylmißbrauch („Sturm auf Europa“)  und die Gefahren der Globalisierung („Armut durch Globalisierung – Wohlstand durch Regionalisierung“, gemeinsam mit Klaus Zeitler) verfaßt und als Gastkommentator unter anderem in der  FAZ, der Welt und dem Rheinischen Merkur publiziert. Für die JF schrieb er zuletzt über die Götterdämmerung der Globalisierung (JF 16/09).

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