© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/10 16. Juli 2010

CD: Klassik
Grundsolide
Jens Knorr

Welch seltsames Opus, das anfängt, als hätte jemand die Noten von „Rheingold“ und „Siegfried“ übereinandergelegt, das unter Verwendung Wagnerscher, Verdischer und anderweitiger Versatzstücke weitergeht und dessen Titel ausdrücklich auf Wagners „Götterdämmerung“ anspielt: „Crepusculum“ – Abenddämmerung.

Seine Azione storica in quattro atti „I Medici“ konnte ihr Schöpfer, ein äußerst belesener junger Dichterkomponist aus begütertem Hause, erst auf der Bühne unterbringen, nachdem er mit einem kleinen Zweiakter zielgenau einen Blockbuster plaziert hatte. Der Zweiakter heißt „Pagliacci“, zu deutsch und nicht ganz korrekt übersetzt: „Der Bajazzo“, der Komponist heißt Ruggero Leoncavallo. Die Historische Handlung „I Medici“ hatte er als ersten Teil ebenjener Trilogie namens „Crepusculum“ konzipiert, welche er durch die nie ausgeführten Teile „Gerolamo Savonarola“ und „Cesare Borgia“ komplettieren wollte. In dem Italien der Renaissance sollte sich das Italien Leoncavallos erkennen und seiner wahren nationalen Werte versichern.

Der Handlung liegt ein historisch verbürgtes Ereignis zu Grunde, die Pazzi-Verschwörung von 1478. Im Auftrag des Papstes, selbstverständlich ein Borgia, sollen die Brüder Giuliano und Lorenzo de Medici, Regenten des prosperierenden Stadtstaates Florenz, ermordet und eine Regierung der dem Papst verbundenen Bankiersfamilie Pazzi installiert werden. Der Staatsstreich schlägt zu Hälften fehl: Giuliano, der Tenor, wird erdolcht; Lorenzo, der Bariton, kann sich retten und den Anschlag überdies zur Befestigung seiner Macht populistisch nutzen. Der sterbend anerkannte Sohn aus dem Liebesverhältnis mit Fioretta, einem der beiden Soprane – den andern, Simonetta, hat einen Akt vorher die Schwindsucht dahingerafft –, wird einen Monat nach Giulianos Tod geboren werden und 45 Jahre später als Klemens VII. den päpstlichen Thron besteigen.

Der Bariton ist Carlos Álvarez, der seine Partie im veristischen al-fresco-Stil sicher zum guten Ende durchbringt. Der Tenor ist unverkennbar Plácido Domingo, „the unsinkable Plácido“, der noch immer die Stamina für die Tamagno-Partie aufbringt. Einfach unglaublich! Die Soprane Daniela Dessì, als Simonetta für das seelische, und Renata Lamanda, als Fioretta für das körperliche Wohlbefinden des Tenors zuständig, halten mit allzuviel Vibrato und schrillen Tönen in den oberen Registern das Wohlbefinden des Hörers in Grenzen. Insgesamt ist die Einspielung mit dem Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino unter Leitung von Alberto Veronesi, dem neuen Mann für das veristische Repertoire bei der Deutschen Grammophon, grundsolide (DG 477 7456)

In dem Beiheft findet sich anstatt einer Linearübersetzung des Originallibrettos die revidierte, will heißen, verschlimmbesserte  deutsche Übersetzung von Lothar Taubert, welche bei der Aufführung am 17. Oktober 1894 in der Berliner Hofoper verwendet wurde. Kaiser Wilhelm II. war von der Aufführung so begeistert, daß er bei Leoncavallo eine große Oper über die Hohenzollern in Auftrag gab: „Il Rolando di Berlino“ nach dem Roman von Willibald Alexis. Das 1904 an der Lindenoper uraufgeführte Opus harrt noch seiner Verewigung auf Tonträgern, seiner Wiederentdeckung auf der Opernbühne sowieso. In Berlin gibt es deren drei.

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