© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/10 16. Juli 2010

Aus dem Dornröschenschlaf gerissen
Sachsen II: Wie wird der Neumarkt ein Platz für die Dresdner? Oberbürgermeisterin Orosz stößt eine Debatte an
Paul Leonhard

Die mächtige Frauenkirche dominiert den Dresdner Neumarkt. Hier flanieren die Touristen, staunen über den Wiederaufbau. Aber noch ist unklar, wie das Quartier zwischen Brühlscher Terrasse und Kulturpalast, Residenzschloß und Kurländer Palais endgültig bebaut wird. Seit Jahren streiten sich Architekten, Stadtplaner, Politiker und Bürger über das Konzept. Zuletzt hatte Oberbürgermeisterin Helma Orosz dazu eine Debatte angestoßen: „Wie wird der Neumarkt ein Platz für die Dresdner?“ Bis zum 8. Juli sollten die Bürger Vorstellungen äußern und sich darüber mit Stadtplanern austauschen können. Dafür wurde am Neumarkt ein Pavillon errichtet.

Wie die gesamte Altstadt war auch der Neumarkt bei den alliierten Bombenangriffen vom 13. und 14. Februar 1945 vollkommen zerstört worden. Die neuen Machthaber ließen nach Kriegsende die Reste der barocken Bürgerhäuser abbrechen. Die Straßen und Gassen verloren ihre Strukturen, und der Neumarkt verwilderte zu einer gewaltigen Brache. Lediglich die Ruinen der großen öffentlichen Gebäude blieben stehen – sehr zum Unwillen von SED-Chef Walter Ulbricht, der hier ein Kulturhochhaus und ein mehrgeschossiges Parkhaus errichten lassen wollte. Die Pläne scheiterten.

Kurz vor dem Ende der SED-Diktatur entstand am Rand der Brühlschen Terrasse in zeitgenössischer Bauweise ein Hotel. Der Neumarkt selbst blieb unbebaut. Aus seinem Dornröschenschlaf wurde er erst durch den Wiederaufbau der Frauenkirche gerissen. Seitdem wird über Art und Weise seiner Bebauung gestritten. Knackpunkt ist dabei das Alte Gewandhaus – ein Gebäude, das seit mehr als 200 Jahren nicht mehr existiert. 1791 wurde es abgerissen. Der Neumarkt konnte dadurch deutlich freier atmen und seine festliche Wirkung entfalten. Eine Radierung von Bernardo Belloto aus dem Jahr 1750 zeigt noch das umstrittene Gebäude, das 1591/92 entstand.

Der Neumarkt ist bis heute der „identitätsstiftende Mittelpunkt“ Dresdens, sagt Orosz: „Der Wiederaufbau der Frauenkirche wurde weltweit verfolgt, die Entwicklung des Areals wird von verschiedenen Experten- und Bevölkerungsgruppen diskutiert.“ Insbesondere die Gesellschaft Historischer Neumarkt Dresden (GHND) kämpft vehement für eine historische Wiederherstellung des Areals. Sie setzte durch, daß historische Leitbauten für die Investoren bindend festgeschrieben wurden. Einige Straßenquartiere um den Neumarkt sind inzwischen wieder errichtet wurden, für andere existieren konkrete Planungen.

Die Dresdner wollen eine Bebauung wie vor 1945

 Strittig bleibt das sogenannte Quartier VI mit der Gewandhaus-Fläche. Die Stadt würde das Grundstück gern für 2,5 Millionen Euro an einen Investor verkaufen, während die GHND gegen eine Bebauung der Fläche ist. Bereits 2003 stimmten in einem später für unzulässig erklärten Bürgerbegehren 63.000 Dresdner gegen einen Gewandhausneubau. Der Stadtrat selbst schwankte. Einem Beschluß zum Wiederaufbau  folgte später die Entscheidung, die Bebauung der Fläche für mindestens zehn Jahre auszusetzen. Ausschlaggebend dafür dürften die Ergebnisse eines Gestaltungswettbewerbs gewesen sein. Kaum ist der Sieger­entwurf bekannt, laufen die Dresdner Sturm. Sie wollen eine Bebauung wie vor 1945 und nicht wie vor 200 Jahren – vor allem aber nicht mit „moderner“ Architektur. In der FDP-Ratsfraktion spricht man von einer „Kriegserklärung an den guten Geschmack“. Andere Fraktionen schließen sich an. 

Die Bebauung würde den Platz unnötig verengen und wichtige Sichtachsen zerstören, auf die bereits im 18. Jahrhundert gesteigerter Wert gelegt worden war, argumentieren die Kunsthistoriker der GHND. Das in den Neumarkt hineinragende Gewandhaus würde viele Ansichten der Frauenkirche nicht mehr zulassen. Der frühere Landeskonservator Gerhard Glaser, der die Gestaltungskommission Kulturhistorisches Stadtzentrum vertritt, drängt dagegen auf einen Neubau. Es wäre ein „Jahrhundertfehler“, das Gelände nicht zu bebauen. Dem widerspricht sein Vorgänger Heinrich Magirius: „Der Neubau würde – unabhängig von seiner architektonischen Durchgestaltung – zu einem ‘Gegenspieler’ der Frauenkirche.“ Diese Gefahr sei durch die um 1800 umgefundene Lösung vermieden worden. „Man sollte Fehler heute erst recht von vornherein vermeiden.“

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