© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/10 09. Juli 2010

Preußen – eine humane Bilanz: Eine Serie von Ehrhardt Bödecker / Teil 4
Wahlrecht in Preußen war besser als sein Ruf
Ehrhardt Bödecker, Gründer des Brandenburg-Preußen Museums Wustrau, berichtigt gängige Preußen-Klischees / Auszüge aus seinem neuesten Buch

Die Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts in Deutschland im Jahr 1871 für die Wahlen zum Reichstag durch den Preußen Bismarck gehört ebenfalls zu den bleibenden Verdiensten Preußens. Nur in Frankreich bestand ein ähnliches Wahlsystem, aber im Gegensatz zu Deutschland mit unzähligen Abweichungen und Fälschungen bei der praktischen Ausführung.

Wichtige Gesetze wurden nach 1871 im Reichstag verabschiedet

Das Dreiklassenwahlrecht, das unmittelbar in Preußen und Sachsen bis 1918 Gültigkeit hatte, wird von den Kritikern Preußens, besonders von den Sozialdemokraten, aus agitatorischen Gründen politisch überbewertet. Die wichtigen Gesetze wurden nicht im preußischen oder im sächsischen Landtag, sondern im Reichstag verabschiedet. Während im Jahr 1914 in England ganze 16 Prozent der Bevölkerung nach dem englischen Klassenwahlrecht wahlberechtigt waren, durften in Preußen selbst nach dem Dreiklassenwahlrecht immerhin 21 Prozent der Bevölkerung zur Wahlurne gehen. In beiden Ländern waren männliche Bewohner vom 25. Lebensjahr an wahlberechtigt. Nur in Frankreich betrug das Wahlalter schon 21 Jahre.

Die Angriffe der Sozialdemokraten gegen das Dreiklassenwahlrecht hatten und haben keine sachlichen, sondern ausschließlich demagogische Gründe. Der vermögende Abkömmling einer jüdischen Unternehmerfamilie Paul Singer, der den bedeutenden Zeitungsverlag der SPD leitete, war ein rhetorisch begabter und daher eindrucksvoller Abgeordneter der SPD im Reichstag. Er sagte: „Preußens herrschende Klassen müssen erfahren, wie das Proletariat über ihre freiheitsmörderische volksfeindliche Politik denkt. Der Kampf um das Wahlrecht wird in Preußen den Gipfel unserer Propaganda und Agitation bilden.“ Deutlicher konnte man die Einschätzung des Dreiklassenwahlrechts durch die SPD nicht ausdrücken. Es war die propagandistische, nicht die sachlich gebotene Zielscheibe der Parteipropaganda der SPD. Im Jahre 2010 heißt das agitatorische Schlagwort nicht Dreiklassenwahlrecht, sondern „Soziale Gerechtigkeit“. Auch das dient in erster Linie der propagandistischen und demagogischen Beeinflussung. Die von Paul Singer mit „herrschender Klasse“ bezeichnete Regierung duldete immerhin 160 Zeitungen der Gewerkschaften und der Sozialdemokraten. Für einen Jahresbeitrag von (umgerechnet) nur vier Euro hat die Deutsche Reichspost diese Zeitungen an die Abonnenten ein ganzes Jahr lang zugestellt. Eine so große Zahl von regierungsfeindlichen Zeitungen zu dulden, ist Ausdruck von Toleranz und gehört zu der humanen Bilanz Preußens.

Wahlfälschungen waren im Deutschen Kaiserreich unbekannt

Die amerikanische Historikerin an der Berkeley-Universität in Kalifornien, Margaret Lavinia Anderson, beschreibt die rechtlichen Verhältnisse bei den Wahlen im Deutschen Kaiserreich in ihrem bedeutenden Buch „Lehrjahre der Demokratie“. Im einzelnen sagt sie: „Auffällig ist die Abwesenheit von Bestechung oder Bestechungsversuchen in Deutschland. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten waren die Deutschen eine außergewöhnlich gesetzestreue Gesellschaft. Wahlfälschungen im großen Stil waren im Deutschen Kaiserreich unbekannt. Die Deutschen begriffen sich als ein gesetzestreues Volk. Sie trauten dem Recht, das durch die Vorschriften eines Gesetzes, einer Verordnung oder einer Genehmigung definiert wird. Die Bürger des Kaiserreichs waren stolz darauf, einem Rechtsstaat anzugehören. Der Staat wurde gemäß den festgelegten Richtlinien regiert, die für den Regierenden ebenso wie für die Regierten bindend waren.“

Obwohl die Wahlprotokolle (Anfechtungen) schon seit Jahrzehnten in den Archiven des Reichstags zugänglich waren, hat sich noch kein deutscher Wissenschaftler der Auswertung dieser Unterlagen angenommen. Erst die amerikanische Gelehrte hat mit ihrer Arbeit erstaunliche Erkenntnisse zutage gefördert, die vieles von dem, was bisher als unumstößlich galt, mit überzeugenden Belegen in Frage gestellt hat. Daher konnte der Berliner Historiker Gerhard A. Ritter in seiner Rezension feststellen, wer heute über das Kaiserreich schreibt, muß dieses Buch der Lavinia Anderson gelesen haben (Historische Zeitschrift, Band 275, R. Oldenbourg, München 2002).

Fortsetzung in der nächsten JF

Foto: Plenarsitzungssaal des Reichstags, 1889: Allgemeines, gleiches und geheimes Wahlrecht galt hier ab 1871 für alle Deutschen (Männer ab 25)

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