© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/10 09. Juli 2010

Einwurf: Notizen zur Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika, Folge neun
Opfer überheblicher Selbstinszenierung
Arthur Hiller

Ein WM-Orakel, das sich auf die Statistik stützt, ist in etwa so zuverlässig wie Kursprognosen an Wertpapiermärkten. Man könnte eigentlich genausogut klassisch vorgehen und die Zukunft aus dem Vogelflug oder den Innereien von Opfertieren vorhersagen. So gibt die Statistik Auskunft, daß Weltmeisterschaften normalerweise von der Auswahl eines Landes gewonnen werden, das auf dem gleichen Kontinent wie die Gastgebernation liegt. Nur Brasilien hat diese Regel, die sich in der Geschichte ganze 16mal bestätigt hat, zu durchbrechen vermocht: 1958 in Schweden und 2002 in Ost­asien. Da afrikanischen Mannschaften ein Titelgewinn diesmal genausowenig zuzutrauen war wie asiatischen vor acht Jahren, kam für die WM am Kap folglich nur die Seleção als Weltmeister in Frage.

Den Niederländern ist es zu verdanken, daß diese Vorhersage bereits im Viertelfinale widerlegt worden ist. Die Taktik der Brasilianer, durch Überheblichkeit Ehrfurcht einzuflößen, ging nicht auf. Der in den ersten vier Auftritten im Turnier vermittelte Eindruck, man spiele eigentlich unter seinen Möglichkeiten, entpuppte sich als fatale Selbstinszenierung. Da die Niederländer nicht so freundlich waren, sich auf sie einzulassen, sondern an ihre Chance glaubten, hatte das erfolgsverwöhnte Starensemble von Kaká und Co. nichts mehr als ein schmollendes „Dann halt nicht“ entgegenzusetzen. Die Pogromstimmung, die Carlos Dunga bei der Rückkehr in die Heimat entgegenschlug und zu seinem Rückzug vom Trainerposten führte, ist ein Ausdruck sentimentaler Wirklichkeitsverweigerung. Es war nicht die Abkehr von alten Tugenden des individualistischen Zauberfußballs, die wie schon 2006 zum frühen Aus der Brasilianer führte. Sie waren schlichtweg zu arrogant, um sich von einem europäisch geprägten Coach sagen zu lassen, mit welchem System man heute auf der Weltbühne konkurrenzfähig ist.

Wo sich Dunga immerhin um einen rationalen Veränderungsprozeß bemühte, baute sein argentinischer Counterpart Diego Maradona lieber ganz auf Intuition und Charisma. Um so größer war das Debakel seines Teams. Vor vier Jahren konnte er als hüpfendes Maskottchen auf der Tribüne nicht weiterhelfen. Nun blieb er als Schamane in der Coaching-Zone erfolglos. Auch nach der historischen 0:4-Schlappe gegen die DFB-Auswahl bleibt unbestritten, daß Argentinien über herausragende Einzelspieler in großer Zahl verfügt – Maradona hatte tatsächlich die Qual der Wahl. Doch wer den Gegner unterschätzt und sich der profanen Mühe taktischer Tüfteleien verweigert, wird halt bestraft.

In historischer Betrachtung ist das Aus von Brasilien und Argentinien im Viertelfinale aber auch gar nicht so ungewöhnlich, wie die Ehrfurcht vor den großen Namen suggeriert. Die „Albiceleste“ fand sich erst vier- und die Seleção zehnmal unter den besten vier Mannschaften wieder. Zum Vergleich: Deutschland macht hier 2010 das Dutzend voll.

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