© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/10 09. Juli 2010

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Benimmregeln
Karl Heinzen

Die Moskauer Stadtregierung erarbeitet derzeit einen Verhaltenskodex, der dem Laissez-faire im öffentlichen Raum einen Riegel vorschiebt. So sollen die Bewohner der Metropole dazu verpflichtet werden, sich außerhalb ihrer eigenen vier Wände ausschließlich in der russischen Sprache zu verständigen. Auch das Tragen fremdländischer Trachten in der Öffentlichkeit wird als unerwünscht betrachtet. Nicht zuletzt sollen exotische Methoden der Verarbeitung von Lebensmitteln, wie etwa das Schächten von Hammeln und das Grillen auf dem Balkon, aus dem Stadtbild verbannt werden.

Die für die Aufstellung der Benimmregeln Verantwortlichen verhehlen nicht, daß sich diese Maßnahme insbesondere gegen Migranten richtet, die es nach dem Ende der Sowjetunion in Scharen aus dem Kaukasus sowie aus Zentralasien nach Moskau zog. Zwar wird ihr wesentlicher Beitrag zur Festigung des Billiglohnsektors sowie zum Aufblühen der Schattenwirtschaft von niemandem bestritten. Dies gebe ihnen aber nicht das Recht, mit ihren oft befremdlichen Verhaltensweisen die russische Leitkultur zu unterminieren.

Die autochthone Bevölkerung ist von derartigen Überlegungen jedoch nicht ganz ausgenommen. In Moskau kreist eine lebhafte öffentliche Debatte um die Frage, ob nicht auch viele Ur-Russen von den Sitten ihrer Väter abgerückt sind und ein ungebührliches Betragen an den Tag legen. Durch Benimmregeln könnten sie zur Umkehr angehalten werden. Zugleich böten sie die Chance, tradierte Unarten zu überwinden.

Das Bemühen, den unverwechselbaren Charakter Moskaus zu bewahren, ist insbesondere mit Blick auf die touristische Attraktivität der Stadt sicherlich nachvollziehbar. Wenn Reisende in den Metropolen dieser Welt überall die gleiche multikulturelle Durchmischung antreffen, fällt es ihnen schwer, zwischen diesen eine qualifizierte Auswahl zu treffen. Sie entscheiden dann letztendlich nach dem Preis, und dieser ist für Moskau-Reisen vergleichsweise hoch. Allerdings sind es mitunter die Touristen selbst, die bei massenhaftem Auftreten die Städte des für sie Typischen berauben und sie zu bloßen Kulissen für Erinnerungsschnappschüsse degradieren. In ihrem eigenem Interesse sollten daher auch sie klaren Regeln etwa hinsichtlich ihrer Kleidung und ihres Benehmens unterworfen werden. Selbst der obligatorische Gebrauch der Landessprache sollte hier kein Tabu sein. Kann man von jemandem, der eine Region wirklich kennenlernen möchte, nicht verlangen, daß er sich dort der Sprache ihrer Menschen zu bedienen weiß?

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