© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

„Solange er Zähne hat“
Politische Zeichenlehre CII: Löwe
Karlheinz Weissmann

Den Erfolg Bart De Wevers bei den Wahlen in Belgien kommentierte die Neue Zürcher Zeitung mit der Überschrift „Der neue flämische Löwe“. „Der flämische Löwe“ ist eigentlich die Bezeichnung der flämischen Hymne, die im 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Autonomiebewegung entstand und in deren erster Strophe es nach der Übersetzung heißt: „Sie werden ihn nicht zähmen, den stolzen flämischen Löwen, / Wenn sie seine Freiheit auch mit Fesseln und Geschrei bedrohen. / Sie werden ihn nicht zähmen, solange ein Flame lebt, / Solange der Löwe Klauen hat, solange er Zähne hat.“

Gemeint ist mit dem flämischen Löwen das traditionelle Wappenbild des Landes, ein aufgerichteter schwarzer Löwe auf gelbem Feld. Der Löwe ist ein Machtzeichen, das seit alters unmittelbare Plausibilität besaß, so daß seine Verbreitung unter schwarzafrikanischen Stämmen wie in den frühen Hochkulturen des Zweistromlands und Persiens, Ägyptens und dann in den Reichen der Antike keiner Erklärung bedarf.

Auch in Israel scheint man sich früh dieses Emblems bedient zu haben. Das Mittelalter zeigte zwar einen gewissen Vorbehalt, denn der Löwe konnte auch als Symbol der alles verschlingenden Sünde verstanden werden. Diese Deutung konnte sich aber nie ganz durchsetzen gegen die Tendenz zur positiven Wertung, die sogar Christus und Maria mit dem Löwen in Verbindung brachte.

Wendet man den Blick auf die weltliche Symbolik des Mittelalters, so fällt zuerst die außerordentliche Verbreitung des Löwen in der Heraldik auf. Si tu n’as pas du blason – prends le lion – „Wenn Du kein Wappen hast – nimm den Löwen“; was mit diesem ironischen Satz kommentiert wurde, war die Tatsache, daß es sich beim Löwen um das verbreitetste Wappentier überhaupt handelte (er kam in 15 Prozent aller Wappen vor, während die zweithäufigste Figur, der Adler, nur 2 Prozent erreichte).

Seit dem 12. Jahrhundert galt er in Europa als „König der Tiere“; sogar in Nordeuropa trat er an die Stelle des bis dahin ausgezeichneten Bären. Zahlreiche Herrscher und große Vasallen trugen ihn im Schild: die Könige von England, Schottland, Norwegen, Dänemark, Böhmen und selbstverständlich León, die Herzöge der Normandie, von Brabant und Sachsen, die Grafen von Flandern und von Katzenellenbogen. Das war bei einer Kriegeraristokratie nicht verwunderlich, deren Ursprung auf eine Zeit zurückging, in der „Tiersympathie“ (Otto Höfler), also die Identifizierung des Kämpfers mit einem (Raub-)Tier, zu den verbreiteten, noch mit magischen Vorstellungen verbundenen Gepflogenheiten gehörte.

Daran erinnert auch der Name der in Sachsen und Bayern begüterten Welfen, der zusammenhängen dürfte mit dem hier verbreiteten Vornamen „Welf“, der wie „Welpe“ nicht nur „junger Wolf“ oder „junger Hund“ bedeutete, sondern allgemein „junges Raubtier“. Vieles spricht dafür, daß der von den Welfen geführte Wappenlöwe ebenso wie der Beiname „der Löwe“ für den berühmtesten Sproß dieser Familie, Heinrich den Löwen, auf diesen Ursprung zurückzuführen ist.

Von dem dynastischen Namen der Welfen leitete sich weiter die Bezeichnung „Guelfen“ für die kaiserfeindliche, den kaiserfreundlichen „Ghibellinen“ entgegengesetzte, Partei im mittelalterlichen Italien ab. Während guelfische Städte und Familien als Beizeichen in ihren Wappen einen Löwen verwendeten, benutzten die ghibellinischen einen Adler beziehungsweise Doppeladler, um ihre Loyalität zu demonstrieren. Der französische Heraldiker Michel Pastoureau hat auf Grund statistischer Auswertungen mittelalterlicher Wappenverzeichnisse sogar von einem „Kampf zwischen Adler und Löwe“ gesprochen und nachgewiesen, daß dort, wo der Adler besonders oft vorkommt (etwa in Österreich und Norditalien) der Löwe ganz zurücktritt, während in anderen mit überproportionaler Häufung von Löwenwappen der Adler vollständig verdrängt erscheint (Belgien, Luxemburg, Dänemark).

In Europa ist aufgrund der mittelalterlichen Heraldik der Löwe in mehreren Fällen zum Nationalsymbol geworden. Das gilt vor allem für England, das seit alters drei goldene Löwen in Rot zeigt, aber auch für Belgien mit dem Brabanter Wappen, dem goldenen Löwen in schwarzem Feld. Dagegen setzte die flämische Bewegung den schwarzen Löwen in Gold. Wird De Wever mit der Neuen Flämischen Allianz an seinem Programm festhalten, ist der Tag nicht fern, daß ein weiteres Staatswappen den Löwen zeigt, das der von ihm angestrebten „Republik Flandern“.

Die JF-Serie „Politische Zeichenlehre“ des Historikers Karlheinz Weißmann wird in zwei Wochen fortgesetzt.

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