© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

CD: Klassik
Ritus
Jens Knorr

So voll Saft und Kraft dürfte „Le Sacre du Printemps“ seit seiner Pariser Uraufführung 1913 unter Pierre Monteux lange nicht geklungen haben. Was sich europäische und US-amerikanische Spitzenorchester über transzendente Umwege jedesmal mühsam erarbeiten müssen, das holen sich die Musiker des „Sinfónica de la Juventud Venezolana Simón Bolívar“ auf direktem Wege aus den Partituren und aus ihrer Wirklichkeit und bieten es mit juveniler bis machistischer Gebärde dar. Dabei sind sie nichts weniger als nur eine „Rasselbande“, die „hier wieder einmal etwas zum ordentlich Krachmachen gefunden“ hätte, wie sich ein deutscher Rezensent in der neuen Aufnahme verhört hat, in der sie Strawinskis Bilder aus dem heidnischen Rußland mit der Orchestersuite „La noche de los Mayas“ des als lateinamerikanischer Strawinski apostrophierten Mexikaners Silvestre Revueltas konfrontieren (Deutsche Grammophon 4778775).

Der CD liegen Konzertmitschnitte vom Februar 2010 aus dem Simón-Bolívar-Saal des Centro de Acción Social por la Música Caracas zu Grunde. Das Spiel der Musiker ist konzentriert und reflektiert und immer – noch in den zartesten Soli, im vielgestaltigen Stimmengewirr sowieso und erst recht im vorwärtsstampfenden Rhythmus der Orchestermaschine – ein Spiel von Gleichen unter Gleichen, vor allem jedoch für Gleiche, dessen Spielcharakter sie stolz ausstellen: Seht und hört! Das alle könnt auch ihr lernen, weil sich, was die Gesellschaft braucht, lernen läßt.

Gleichester unter Gleichen ist Gustavo Dudamel, der charismatische Dirigent, der über den abendländischen Konzertbetrieb gekommen ist wie weiland Leonard Bernstein. Das Geheimnis des Wunders Dudamel ist die Fundación del Estado para el Sistema de Orchesta Juvenil e Infantil de Venezuela – kurz: „Fesojiv“ oder „el sistema“ –, das venezolanische Fördersystem für den künstlerischen Nachwuchs, verwirklichte Vision des Dirigenten, Komponisten und studierten Ökonomen José Antonio Abreu, über das hierorts viel geschrieben und gesprochen, ein bemerkenswerter Dokumentarfilm gedreht worden und das für die deutsche Bildungs- und Kulturpolitik in Bund und Ländern, wen wundert’s, völlig folgenlos geblieben ist. Der unwiderlegliche Lebensbeweis dieses Systems sind die jungen, hungrigen Musiker, von denen es beispielsweise Edicson Ruiz in die Kontrabaßgruppe der Berliner Philharmoniker und Gustavo Dudamel auf die Chefposition der Orchester von Göteborg und Los Angeles gebracht hat.

Die Mutter Gaia des venezolanischen Antaios ist und bleibt immer „das System“ und sein Botschafter, das SBYOV. Jedes seiner Konzerte, jede seiner Aufnahmen bringt aufregende Neubegegnungen mit den Partituren von Mahler, Beethoven, Tschaikowski und nun Strawinski und Revueltas, die man durchaus kontrovers diskutieren kann, ignorieren kann man sie nicht.

Nicht das alte kranke Europa wollen die jungen Wilden des SBYOV im Konzertsaal durchrütteln, vielmehr die sinnentleerten Säle mit der rituellen Handlung des Konzerts neu weihen, damit die alten Europäer gesunden. Eine von allen guten Geistern verlassene Hochkultur wird von jenen in Besitz genommen – aufgehoben! –, denen sie sowohl Mittel als auch Zweck ist und ihr Heim die grenzenlose Erde.           

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