© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

Restauration im Schatten der Krise
Rußland: Der russisch-weißrussische Gas-Streit hat einen politischen Hintergrund / EU, Nato und USA sind gezwungen, auf Partnerschaft mit Moskau zu setzen
Alexander Rahr

Im Schatten der Finanzkrise baut Rußland seine Einflußzone im „Nahen Ausland“, dem Gebiet der Ex-Sowjetunion, wieder auf. Der Westen hat nichts dagegen – einerseits sind die USA und die EU mit eigenen Problemen beschäftigt, andererseits können sie der Ukraine oder Weißrußland (Belarus) mangels Ressourcen nicht unter die Arme greifen. Die „Östliche Partnerschaft“ der EU bleibt ein Papiertiger. Die einst mit großem Elan aufgelegte Zentralasien-Strategie der EU ist verpufft – beim Konflikt in Kirgistan (JF 26/10) ist der Westen nur Zaungast. Die Territorialkonflikte im Südkaukasus scheinen Nordmerikaner und Europäer im eingefrorenen Zustand belassen zu wollen. Rußland aus Abchasien und Südossetien zu vertreiben – was der republikanische US-Präsidentschaftskandidat John McCain auf seiner Agenda hatte – gehört jedenfalls nicht zu den Prioritäten westlicher Politik.

Wer hätte dies während des Georgien-Krieges (JF 35/08) noch vorausgesagt! Doch die Lehman-Pleite einen Monat später hat die Prioritäten geändert. Wa-shington und Brüssel bemühen sich heute intensiv um eine Modernisierungspartnerschaft mit Moskau. Rußland hat viel zu bieten: neue Milliarden, die im Zuge der gestiegenen Rohstoffpreise verdient wurden, Teilnahme westlicher Firmen an der Privatisierung staatlicher Holdings, Öffnung des riesigen Marktes für westliche Technologien.

Die Tatsache, daß die Ukraine nach der Wahl von Präsident Viktor Janukowytsch (JF 9/10) eine Kehrtwendung vollzieht, auf den Nato-Beitritt verzichtet und die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim (JF 37/08) für ein weiteres Vierteljahrhundert stationieren läßt beunruhigt den Westen nicht. Eher ist ist man froh darüber, daß der Gastransit über ukrainisches Territorium nach Westeuropa störungsfrei verläuft und daß Moskau sich von der Nato nicht mehr bedrängt fühlt. Die Atmosphäre in Europa ist dadurch insgesamt friedlicher und kooperativer geworden.

Deshalb ist es durchaus nicht verwunderlich, daß der jüngste Gasstreit zwischen Moskau und Minsk den Westen kaltließ. Die Hintergründe dieses plötzlich ausgebrochenen Konflikts konnte sowieso niemand verstehen. Der Streit endete so plötzlich wie er begonnen hatte. Die weißrussische Führung mußte erkennen, daß es Rußland gegen die EU nicht ausspielen konnte. Und in der EU mehren sich die Stimmen derjenigen, die sich schnellstmöglich die früher viel gescholtene Ostseepipeline (JF 4/09) herbeiwünschen. Diese könnte die Transitländer isolieren und den Gastransfer nach Europa störungsfreier machen.

Zollunion und Militärbündnis

Der russisch-weißrussische Streit hatte  einen politischen Hintergrund. Rußland möchte im Juli 2010 endlich die langersehnte Zollunion auf postsowjetischem Territorium errichten. Kasachstan und Weißrußland wollen ihr beitreten, doch Minsk beansprucht von Moskau denselben verbilligten Gaspreis, der in Rußland vorherrscht. Das will der Kreml nicht akzeptieren. Minsk wird sich wohl aufgrund fehlender Alternativen zähneknirschend der Zollunion – zu russischer Bedingungen – anschließen.

Die Zollunion Rußland-Kasachstan-Belarus dürfte erst der Beginn einer neuen Reintegrationspolitik auf dem Territorium der einstigen Sowjetunion sein. Der nächste Schritt ist die Weiterentwicklung der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (ODKB), der neben Rußland, Weißrußland und Armenien die vier mehrheitlich muslimischen zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan angehören.

Die Nato, die eine Partnerschaft mit diesem östlichen Verteidigungsbündnis stets ausgeschlossen hatte, um Rußland nicht eine eigene Einflußsphäre in Eurasien zu geben, denkt nun um. Die Nato benötigt die Zusammenarbeit mit der ODKB bei der Befriedung von Afghanistan stärker, als sie zugeben möchte. Der Westen hätte wohl auch keine Einwände gegen Rußlands Eingreifen in den kirgisischen Bürgerkrieg gehabt – wenn er klaren humanitären Zielen gedient hätte. Weder die Nato noch die EU verfügen über eigene Militärkapazitäten für Zentralasien. Schwierig wird es für den Westen, wenn Rußland und Kasachstan ihr nächstes Ziel verfolgen: den Aufbau eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes. In diese „Ost-EU“ soll auch die Ukraine inkorporiert werden. Noch wehrt sich Kiew gegen jegliche Versuche der Vereinnahmung. Doch die Ukraine und andere ehemalige Sowjetrepubliken beobachten mit Sorge die aufkommenden Wirtschaftsprobleme innerhalb der EU.

Die EU wird nach der geplanten Erweiterung auf den Westbalkan vermutlich alle weiteren Osterweiterungspläne für lange Jahre einfrieren. Ein Land wie die Ukraine wird dann gezwungen sein, Assoziierungsabkommen sowohl mit der EU als auch mit Rußland/Kasachstan anzustreben. Die neue geostrategische Lage im Osten Europas ist keine Katastrophe. Im Gegenteil, vielleicht entspricht sie der historischen Normalität. Die Ostpolitik der EU benötigt in der Wirtschaftskrise neuen Realismus.

 

Alexander Rahr ist Programmdirektor Rußland/Eurasien in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (www.dgap.org).

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