© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

Das Drama unter der Kuppel
Bundesversammlung: Die Wahl von Christian Wulff zum Bundespräsidenten entwickelt sich zu einem nervenaufreibenden Geduldsspiel
Marcus Schmidt

Volker Beck kündigte den Beginn des Dramas an. Als der Grünen-Politiker kurz vor Verkündung des Ergebnisses des ersten Wahlganges mit großen Schritten den Plenarsaal durchquerte und dabei jedem siegessicher seine beiden Fäuste entgegenstreckte, war klar, daß CDU, CSU und FDP bei der Wahl des Bundespräsidenten Ungemach drohte. Zumal währenddessen die Wahlleute der Linkspartei in einer anderen Ecke des Saales ihre Kandidatin Jochimsen herzten, die, wie sich kurz darauf herausstellen sollte, zwei Stimmen mehr als erwartet bekommen hatte.

Dann verkündete Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in seiner Funktion als Vorsitzender der Bundesversammlung das Ergebnis, das die Wahl des zehnten Bundespräsidenten zum Drama machen sollte: 499 Stimmen für Joachim Gauck, 600 für Christian Wulff, 126 Stimmen für Luc Jochimsen, drei für Frank Rennicke. Damit war klar: Schwarz-Gelb waren 44 Wahlleute von der Fahne gegangen. Selbst die größten Optimisten der Opposition hatten damit nicht gerechnet. Die Sensation war perfekt.

Was folgte, war ein nervenaufreibendes Geduldsspiel, das allen Akteuren bei schweißtreibenden Temperaturen das äußerste abverlangte. Geplant war das alles ganz anders. Auf der Fraktionsebene des Reichstages stand schon das Essen für den traditionellen Empfang nach der Wahl bereit. Doch statt an das Buffet eilten die Wahlleute von CDU und CSU, wie die der anderen Parteien auch, in die Fraktionssäle. Ziellos schob ein Koch einen Küchenwagen mit der Aufschrift „Atlantikzunge“ an den hungrigen Parlamentariern vorbei. Statt Fisch gab es Wasser, das kistenweise in den Fraktionssaal der Union getragen wurde. Hier bestand ebenso wie bei der FDP Gesprächsbedarf, weil ihr Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten, Christian Wulff, im ersten Wahlgang ganze 23 Stimmen von der in den ersten beiden Abstimmungen notwendigen absoluten Mehrheit entfernt war. SPD und Grüne konnten sich unterdessen zurücklehnen. Ihr Kalkül, die schwarz-gelbe Koalition in Bedrängnis zu bringen, schien aufzugehen. Auch die Linkspartei war noch bester Dinge.

Gezielt mit Informationen gefüttert

Als die Wahlleute der Union den Saal wieder verließen, wirkten die allermeisten eher wütend als enttäuscht. „Wenn wir die Sache eigenständig entscheiden wollen, dann müssen wir das jetzt im zweiten Wahlgang erledigen“, ließ ein Wahlmann die wartenden Journalisten wissen. Andere gaben sich optimistisch. „Wir gehen jetzt frohen Mutes wählen“, faßte Bayerns Umweltminister Markus Söder (CSU) die Beratungen zusammen. „Man muß das sportlich sehen“, sagte ein sichtlich zerknirschter Wolfgang Bosbach (CDU), um dann an den „Corpsgeist“ von Schwarz-Gelb zu appellierten. Andere waren da deutlicher: „Ich finde, diese Leute sind krank im Kopf“, sagte ein erboster Unionspolitiker in Richtung der Abweichler. Das Drama ging in die nächste Runde.

Nachdem auch der zweite Wahlgang nur leichte Verschiebungen aber keinen Sieger hervorgebracht hatte (Wulff: 615, Gauck: 490, Jochimsen: 123, Rennicke: 3) war die Spannung im Reichstagsgebäude mit Händen zu greifen. Wieder eilten die Wahlleute auf die Fraktionsebene, vorbei an dem immer noch unter Verschluß gehaltenen Buffet in die Besprechungssäle. Die Fraktionsebene entwickelte sich zu diesem Zeitpunkt endgültig zum Zentrum des Geschehens. Wenn der Plenarsaal die große Bühne war, so war die immer mehr aufgeheizten Fraktionsebene hoch oben unter der Kuppel die Probebühne. Hier wurden immer neue Ränke geschmiedet, immer neue Gerüchte in Umlauf gebracht, hier gingen Journalisten auf die Jagd nach Abweichlern und wurden selbst gezielt von Zuträgern aus den Fraktionen mit Informationen gefüttert. Mitunter führte dies zu den wildesten Gerüchten. Plötzlich, nach dem zweiten Wahlgang, als die ersten Wahlleute ihre Buchungen für die Rückreise in die Heimat stornieren mußten, wurde der Name des früheren Bundesumweltministers Klaus Töpfer (CDU) hoch gehandelt. Aufregung machte sich breit, ungläubiges Gelächter, aufgeregte Diskussionen waren die Folge.

Schließlich lag der Ball bei der Linkspartei. Auf ihren Auftritt, so war nach dem zweiten Wahlgang schnell klar, würde es ankommen. „Die haben vorher gebetet, daß es dazu nicht kommt“, war aus dem Umfeld der Partei zu vernehmen. Immer wieder verlängerte die Linkspartei ihre Sitzung, schließlich, es war mittlerweile 19.20 Uhr, verkündete Gregor Gysi das Ergebnis. Nach offenbar heftigen Auseinandersetzungen zog Luc Jochimsen ihre Kandidatur zurück; oder war sie dazu gedrängt worden? Dem Verzicht vorausgegangen waren Verhandlungen zwischen Linkspartei, Grünen und SPD. Doch alle Versuche, zu einer Einigung zu kommen, scheiterten. Claudia Roth stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. „Das ist Politikverweigerung“, kommentierte sie die Ablehnung der Linken, für Gauck zu stimmen.

Wie gereizt die Stimmung war, zeigte eine Szene am Ende der endlos scheinenden Beratungen der Linkspartei. Auf offener Bühne und vor laufenden Kameras kamen sich der Grünen-Politiker Werner Schultz und Gysi in die Haare. „Nicht mal angerufen habt ihr“, polterte Gysi Richtung Rot-Grün.

Daß die Linke nicht für Gauck stimmen würde, war da längst klar. Ein tiefer Riß ging durch die Fraktion. Nicht wenige verwiesen auf die „MfS-Fraktion“ unter den Wahlleuten der Linken, die auf 12 geschätzt wurde und die „ums Verrecken“ nicht für den ehemaligen Stasi-Beauftragten stimmen würden. Mit deutlichen Buh-Rufen quittierte schließlich das rot-grüne Lager die 121 Enthaltungen im dritten Wahlgang.

Doch die Unmutsäußerungen wurden schnell abgelöst von dem rot-grünen Jubel über das beachtliche Ergebnis für Gauck (494 Stimmen) und den Ausbruch der Erleichterung in den Reihen der Koalition, als feststand, daß Wulff im dritten Anlauf mit 625 Stimmen zum neuen Bundespräsidenten gewählt worden war. Einige Parlamentarier hatten am Ende  allerdings ganz andere Sorgen. „Das Essen stand so lange herum, hoffentlich haben wir uns keine Salmonellen eingefangen“, sagte ein Wahlmann.

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