© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

Alarmierende Zahlen
Bildungspolitik: Der erste nationale Schulvergleich hat gravierende Unterschiede zwischen den Bundesländern aufgedeckt
Hans Christians

Die Pädagogen klagen an: Deutschland habe aus den sogenannten Pisa-Tests der vergangenen Jahre nichts gelernt. Und die Resultate sind in der Tat alarmierend. Denn beim ersten nationalen Schulvergleichstest der Neunt-

kläßler in Deutsch und Englisch liegen Bayern und Baden-Württemberg an der Spitze. Dies deckt sich mit den Erkenntnissen, die aus den bisherigen Pisa-Tests gezogen wurden. Schlecht schnitten wie gehabt vor allem die Schüler aus Nord- und Mitteldeutschland ab.

Die Testresultate offenbaren,  daß die Schüler in Bremen, Berlin, Hamburg und Brandenburg unterdurchschnittliche Fähigkeiten aufgewiesen haben. Vor allem in Englisch fallen die fünf östlichen Bundesländer deutlich ab. Bei der Vorstellung der Studie lieferte der Schulforscher Olaf Köller eine interessante Erklärung. Nur gut die Hälfte der Englischlehrer hätte dieses Fach auch studiert, sagte er.

Die Qualität der Lehrerausbildung schlägt sich demnach deutlich in den Resultaten der Schüler nieder. Denn im Westen hätten in der Regel mehr als 80 Prozent der Lehrer einen entsprechenden Studienabschluß, entsprechend besser seien auch die Resultate. Schulforscher Köller schlägt deswegen ein Schulsystem mit einer zweiten Säule neben dem Gymnasium vor. Einerseits zeige der Vergleich ganz eindeutig, daß Gymnasien auch eine hohe Zahl an Schülern verkraften würden, beispielsweise wenn sie mehr als ein Drittel der Kinder eines Jahrgangs aufnehmen würden. Mittlerweile gingen selbst in Bayern mehr als 40 Prozent der Fünftkläßler aufs Gymnasium. Andererseits häuften sich Probleme, „wenn viele leistungsschwache Schüler zusammen sind“. In vielen Ländern gehen nur noch 10 bis 20 Prozent der Kinder auf die Hauptschule. In Bayern und Baden-Württemberg hingegen sind es noch mehr als 30 Prozent – Tendenz fallend.

Diese Resultate sind vor allem deswegen interessant, da in einigen Bundesländern einschneidende Reformen des Schulwesens diskutiert werden. So sollen die Schüler in Hamburg und dem Saarland künftig länger zusammen lernen. Für den Ländervergleich testete das Berliner Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) im vergangenen Jahr rund  37.000 Schüler der neunten Klasse an 1.466 Schulen. Der Test löst für den innerdeutschen Vergleich die Pisa-Tests ab und fußt auf den von den Kultusministern festgelegten Bildungsstandards. Diese legen fest, welche Fähigkeiten und Kenntnisse Schüler beim Mittleren Schulabschluß „mindestens“ und welche sie „in der Regel“ haben sollen. Die ersten Resultate offenbaren gravierende Mängel. So erreichen in Berlin und Bremen mehr als 25 Prozent der Neuntkläßler, die nicht auf ein Gymnasium gehen, im Lesen noch nicht einmal den Minimalstandard.

Selbst in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sind es rund neun Prozent. Noch schlimmer  sieht es bei den Englisch-Ergebnissen aus: Hier erfüllt vielfach nicht einmal die Hälfte der Schüler außerhalb der Gymnasien die Minimalanforderungen.

„Chancengleichheit bleibt ein Fremdwort“

Die Auswertung der Gymnasialklassen zeigte aber, daß deren Ergebnisse im Schnitt umso besser ausfallen, je weniger Kinder eines Jahrgangs aufs Gymnasium gehen. „Chancengleichheit bleibt im deutschen Schulsystem ein Fremdwort“, sagte das Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marianne Demmer, nach der Vorstellung der Resultate: „Fast zehn Jahre nach Pisa gibt es keine substantiellen Verbesserungen des deutschen Schulsystems.“ Der Zusammenhang zwischen Milieu und Lernerfolg läßt sich nicht von der Hand weisen.

Ähnlich wie bei Pisa zeigte sich auch beim aktuellen Ländervergleich eine große Abhängigkeit des Schulerfolges vom Elternhaus: Im Schnitt hat ein Kind von Eltern, die eine Führungsposition haben oder generell in einer gehobenen Einkommenssituation sind, eine viereinhalbmal so große Chance, aufs Gymnasium zu kommen, wie ein Kind von Arbeitern, das im Lesen ebenso gut abschneidet. In den Südländern ist die Chance sogar mehr als sechsmal so hoch. Fast ebenso hohe Quoten errechneten die Schulforscher für Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Wie auch schon bei den Pisa-Tests schneiden Migranten generell deutlich schlechter ab. Die größten Probleme haben demnach türkischstämmige Schüler. Die Unterschiede zwischen Migranten und Nicht-Migranten sind jedoch in Bayern und Berlin deutlich höher als im Bundesschnitt. Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) zog dennoch eine positive Bilanz. „Der Ländervergleich zeigt, wie wichtig Bildungsstandards für die Verbesserung des Schulsystems sind“, sagte sie der Rheinischen Post. Insgesamt sei das Niveau in Deutschland seit der ersten Pisa-Studie im Jahr 2001 gestiegen. Die Bundesbildungsministerin lobte vor allem die Südländer. Sie investierten kontinuierlich in Unterrichtsqualität und Lehrerausbildung. Und einen Seitenhieb auf die Koalitionäre in Hamburg und dem Saarland konnte  sich Frau Schavan  auch nicht verkneifen: „Andere Länder führen stattdessen Strukturdebatten, die zwar mehr Unruhe, nicht aber mehr Qualität ins Schulsystem bringen.“

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