© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

„Mißtrauen gegen das Volk“
Deutschland wählt – unter Ausschluß des Volkes. Hans H. von Arnim fordert die Direktwahl des Bundespräsidenten
Moritz Schwarz

Herr Professor von Arnim, der „Spiegel“ spricht von „der Wahl, die keine ist“. Haben die Hamburger Kollegen recht?

Arnim: Zweifellos, egal wie sie nun ausgegangen ist, es handelt sich um einen Fall illegitimer Machtausübung der Parteien.

Warum?

Arnim: Im Fall des Kandidaten Christian Wulff hatten die Chefs der drei Regierungsparteien versucht, ihren Wahlmännern und -frauen die Besetzung des Amtes vorzugeben und ihnen die rechtlich garantierte freie Wahl zu nehmen; zu diesem Zweck wurden möglichst Linientreue in die Bundesversammlung geschickt. Aber auch der Kandidat Joachim Gauck wurde von SPD und Grünen nicht etwa aufgestellt, weil sie ihn wirklich als Bundespräsidenten wünschten. Hätten sie von vornherein die Mehrheit in der Bundesversammlung gehabt, hätten sie vermutlich einen der ihren nominiert. Gauck hatten sie nur ausgesucht, um die Regierung öffentlich vorzuführen.

Was haben wir nun von Wulff zu erwarten?

Arnim: Sowohl vor Wulff wie vor Gauck habe ich großen Respekt und glaube, daß beide dem Amt alle Ehre gemacht hätten. Während Gauck jedoch die fast hymnische Zustimmung fast aller Medien genoß, galt Wulff vielen nur als „der Systemmensch“. Ich glaube, daß er damit verkannt wurde. Wulff ist nicht der Mann, der als Präsident alle Maßnahmen der Regierung widerstandslos abnickt. Der wird die Rolle des überparteilichen Staatsoberhaupts vielmehr voll ausfüllen. Ich darf daran erinnen, daß er sich als CDU-Fraktionsvorsitzender in Niedersachsen zum Beispiel dafür eingesetzt hatte, daß verfassungswidrige, aber vom Bürger nicht einklagbare Mängel in Diäten-Fragen bereinigt wurden, die in anderen Bundesländern immer noch bestehen. Er hat auch den Mut gehabt, die Aufrechterhaltung der Konfiskation von Alteigentum nach der Wende in der ehemaligen DDR durch die Regierung Kohl ein großes Unrecht zu nennen, das man wenigstens halbwegs beheben müsse. Auch das hat ihm in der eigenen Partei nicht gerade Sympathien eingebracht. Gegen die eigenen Funktionäre hat Wulff auch den Anstoß für die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten in Niedersachsen gegeben. Wulff ist also keineswegs der schlichte Parteisoldat, zu dem ihn viele Medien machen wollten.

Und Joachim Gauck?

Arnim: Ohne Zweifel ist er eine verdiente und geeignete Persönlichkeit für dieses Amt. Dabei hat die große Begeisterung für ihn wohl auch den Überdruß vieler an der politischen Klasse widergespiegelt.

Sie haben für die Direktwahl des Bundespräsidenten votiert, also waren Sie für Gauck?

Arnim: Leider hat die Debatte eine Schlagseite bekommen und beides miteinander verknüpft, aber das ist falsch.

Inwiefern?

Arnim: Mir geht es um Grundsätzliches: Der Parlamentarische Rat – also jenes Gremium, das 1949 das Grundgesetz ausgearbeitet hat, welches auch die Wahl des Bundespräsidenten regelt – war von dem Gedanken erfüllt, möglichst jede Art von Direktwahl zu verhindern. Denn der Rat war von abgrundtiefem Mißtrauen gegen das Volk erfüllt, das einem Diktator zugejubelt hatte. Theodor Heuss, eines seiner prominentesten Mitglieder, brachte das zum Ausdruck, indem er vom Volk als von einem bissigen Hund sprach: „Cave canem!“, zu deutsch: „Hüte dich vor dem Hund!“, waren seine Worte.

Dabei haben weder Volk noch Direktwahl Hitler an die Macht gebracht, sondern die Parteien, die dem Ermächtigungsgesetz zustimmten.

Arnim: Auch das stimmt. Und die spätere panische Angst vor dem Volk mag teilweise auch durch die psychische Verdrängung eines schlechten Gewissens zu erklären sein, denn Heuss war ja selbst einer der Reichstagsabgeordneten, die Hitlers Ermächtigungsgesetz gebilligt hatten. Aber wie auch immer, über sechzig Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur und zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989 gibt es für diese Angst vor dem Volk keinen Grund mehr und Direktwahlen könnten ein wichtiges Element sein, um die Demokratie zu stärken und der wachsenden Kluft zwischen Volk und politischer Klasse entgegenzuwirken.

Ist denn eine Direktwahl des Bundespräsidenten in Zukunft realistisch?

Arnim: Nein, dafür müßte das Grundgesetz mit Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat geändert werden. Und dazu wird sich die politische Klasse nie und nimmer bereit finden, denn das würde einen Einbruch in ihre Allmacht bedeuten. Um so wünschenswerter wäre es allerdings aus Sicht der Bürger.

Stichwort: Debatte um den Fraktionszwang.

Arnim: Zum Beispiel. Man kann ja durchaus der Meinung sein, ein faktischer Fraktionszwang sei im Parlament notwendig, weil eine von ihm getragene Regierung stabile Mehrheiten braucht, um effektiv regieren und ihre Gesetzesvorlagen durchbringen zu können. Auf den Bundespräsidenten trifft das aber gerade nicht zu. Er ist auf fünf Jahre gewählt und braucht für eine erfolgreiche Amtsführung weder das Vertrauen noch die Mehrheitsbeschlüsse irgendeines Gremiums, auch nicht der Bundesversammlung, die sich nach seiner Wahl ja ohnehin wieder auflöst. Bei der Wahl des Präsidenten Fraktionsdisziplin einzufordern, ist funktions- und gemeinwohlwidrig und kann sich schon gar nicht aufs Grundgesetz berufen, welches den Parteien die Mitwirkung, nicht aber das Monopol an der Willensbildung des Volkes – nicht auch des Staates – zuweist. Im übrigen spiegelt die Bundesversammlung auch keineswegs die realen Mehrheitsverhältnisse im Volk wider. Union und FDP stellten dort am Mittwoch über fünfzig Prozent der Mitglieder. Tatsächlich aber stehen, laut Umfragen, nur noch 35 Prozent der Wähler hinter diesen beiden Parteien. Auch die Fünf-Prozent-Hürde, die bei Parlamentswahlen in Bund und Ländern gilt und auch auf die Zusammensetzung der Bundesversammlung durchschlägt, paßt hier nicht. Wo es um die Stabilität von Regierungen geht, mag die Sperrklausel ihren Sinn haben. Im Falle der Bundesversammlung aber ist es sinnwidrig, die zuvor durch die Hürde herausgefilterten Stimmen unter den Tisch fallen zu lassen.

Aber nicht nur das, Sie haben auch festgestellt, daß die Wahl Wulffs verfassungswidrig ist.

Arnim: Im Grunde ja, jedenfalls materiell verfassungswidrig, denn es war von Anfang an klar, daß seine Wahl – wenn nur wenige Wahlleute von FDP und Union „ausscheren“ würden – auf den 24 Überhangmandaten beruht, die die Union bei der Bundestagswahl 2009 erhalten hat. Überhangmandate aber sind nicht nur ein schwerer Systemmangel unseres Wahlrechts, sondern auch verfassungswidrig. Dies allerdings auch amtlich festzustellen hat das Bundesverfassungsgericht wegen eines politischen Vier-zu-Vier-Patts im Jahre 1997 nicht vermocht.

Wenn das Urteil ein Patt war, wieso sind dann die Überhangmandate verfassungswidrig?

Arnim: Das Gericht selbst hatte noch 1988 Überhangmandate nur in „engen Grenzen“ zugelassen und ein einziges Überhangmandat gerade noch akzeptiert. Mit diesen Grundsätzen ernst zu machen, verhinderten dann 1997, als es um 16 Überhangmandate ging, die vier von Union und FDP bestellten Richter und haben damit die ganz knappe Mehrheit der damaligen Kohl-Regierung stabilisiert. Das war eine politische Gefälligkeitsentscheidung. Ohne diese gäbe es keine Überhangmandate, mit der Folge, daß die Mehrheit von Union und FDP erheblich abgeschmolzen wäre und bereits wenige „Überläufer“ genügt hätten, um eine Wahl Wulffs, jedenfalls in den ersten Wahlgängen, definitiv zu verhindern.

Geht das überhaupt, ein verfassungswidriger Bundespräsident?

Arnim: Der Wahl haftet gegebenenfalls ein schwerer demokratischer Makel an, für den der Amtsträger zwar nicht verantwortlich ist, was aber nichts an der Sache ändert.

Warum wurde das bisher kaum thematisiert?

Arnim: Die Thematik ist sehr kompliziert und wird zudem noch überlagert durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2008, mit welchem das sogenannte negative Stimmgewicht für verfassungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber für die Korrektur eine Frist bis 2011 gesetzt wurde. Das ändert aber nichts an der genannten Gefälligkeitsrechtsprechung. Im übrigen haben die Parteien je für sich Gründe, Überhangmandate nicht öffentlich zu thematisieren. Die Union profitiert davon. Die SPD hat früher mal davon profitiert und sich dann vor der Bundestagswahl 2009 aus Koalitionsräson geweigert, einen Gesetzentwurf der Grünen zu unterstützen, der die Überhangmandate abgeschafft hätte. Aber auch manches andere wirft ebenfalls einen Schatten: etwa die Pension des Bundespräsidenten. Dieser erhält nämlich als einziger Amtsträger der Republik seine Bezüge auch nach Ende seiner Amtszeit in voller Höhe weiter. Warum? Bis Ende der fünfziger Jahre sah das Gesetz vor, daß er nur die gleiche Bezahlung erhält, wie früher ehemalige Reichspräsidenten: ein Jahr lang volle Bezüge, danach nur noch die Hälfte. Doch das wurde 1959 geändert, als Konrad Adenauer damit liebäugelte, selbst Bundespräsident zu werden. Als Begründung ist nachzulesen, der Bundespräsident bedürfe der vollen Bezüge, um daraus nach dem Ende seiner Amtszeit für seine zahlreichen Verpflichtungen Büro, Sekretärin, Referent sowie Auto mit Fahrer zu bezahlen. Inzwischen aber haben alle ehemaligen Bundespräsidenten all das sowieso. Es gibt also keinen Grund mehr für die Beibehaltung des überkommenen Privilegs. Sicher, die Einsparung würde den Bundeshaushalt nicht fett machen, aber in Zeiten, in denen viele Bürger um ihre Rente fürchten müssen, wäre es zumindest ein gutes Zeichen, wenn der Mann an der Spitze des Staates eine entsprechende Gesetzesänderung anregte.

Seit Wochen prophezeien die Kommentatoren, der Ausgang der Bundespräsidentenwahl entscheide über die Zukunft der Regierung.

Arnim: Über diese Einschätzung kann ich mich nur wundern, denn es ist doch klar, daß so oder so die Bundesregierung – angesichts ihres gewaltigen Vertrauensverlustes – auf keinen Fall Neuwahlen anstrebt. Und was Frau Merkels Stellung in der Partei angeht: Sicher wäre diese bei einem Sieg Gaucks nicht besser und ihr Ansehen nicht größer, aber in keinem Fall sähe ich eine Palastrevolution in der CDU kommen, schon aus Mangel an revolutionsbereiten Prätorianern.

Wenn dem so ist, warum wurde der Wahlausgang dann immer wieder zum Schicksalstag für die Koalition stilisiert?

Arnim: Gute Frage, ich halte das für einen typischen Fall medialer Überdramatisierung. Im Grunde täuschen solche Debatten die Bürger nur über ihre völlige politische Entmachtung hinweg.

Eine Direktwahl des Bundespräsidenten kann sich die etablierte Politik doch schon deshalb nicht leisten, weil dann auch eine Kompetenzausweitung für diesen nötig wäre.

Arnim: Da bin ich anderer Meinung. Die Direktwahl des Bundespräsidenten wäre keineswegs der Einstieg in ein anderes politisches System und würde mitnichten eine Grundgesetzänderung nach sich ziehen. Das sieht man bereits an Österreich mit seinem direkt gewählten Präsidenten. Im übrigen ist unser Verständnis vom Amt des Bundespräsidenten noch allzusehr von der ersten Präsidentschaft durch Theodor Heuss geprägt. Damals brachte der Machtpolitiker Konrad Adenauer den Schöngeist Heuss dazu, sich mit einer restriktiven Interpretation seiner präsidialen Befugnisse zu bescheiden. Dies und der Vergleich mit den sehr weitreichenden Kompetenzen des alten Reichspräsidenten verleitet uns dazu zu glauben, der Bundespräsident habe praktisch keinen Spielraum.

Und das stimmt nicht?

Arnim: Nein, er hat durchaus Befugnisse, die ihm Einflußnahme ermöglichen, wenn er diese nur auszuschöpfen bereit ist: So muß er alle Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen und gegebenenfalls seine Unterschrift verweigern. Außerdem schließt er im Namen des Bundes die Verträge mit anderen Staaten ab und kann auch hier mitwirken. Er kann Sachverständigenkommissionen berufen, die nicht, wie die etwa des Bundestages, nur nach Parteienproporz besetzt sind. Und er ernennt Bundesrichter, Bundesbeamte sowie Offiziere und hat auch hier das Recht und die Pflicht dies zu verweigern, wenn – wie es das Grundgesetz verbietet – Ämterpatronage betrieben wird. Auch das gibt ihm angesichts der leider oft alltäglichen Patronage durch die Parteien Möglichkeiten zum Eingreifen.

Als ersten Schritt schlagen Sie allerdings eine Direktwahl der Ministerpräsidenten vor.

Arnim: Weil wir dafür nicht Mehrheiten in den von den Parteien beherrschten Parlamenten brauchen, sondern dies kann per Volksentscheid – den es in allen Bundesländern im Gegensatz zur Bundesebene gibt – an den Parlamenten vorbei bewerkstelligt werden. Auf diesem Wege wurde bereits die Direktwahl der Bürgermeister durchgesetzt, was allgemein als großer Erfolg gilt. 1992 stimmten dafür in Hessen 82 Prozent. In anderen Ländern brauchte deshalb nur noch mit einem Volksbegehren glaubwürdig gedroht zu werden, um selbst den widerstrebendsten Landesparlamenten Beine zu machen. Und dieses Verdienst kommt in Niedersachsen eben Christian Wulff zu. Auf diesem Wege haben die Bürger – in Verbindung mit aufgeschlossenen Politikern – die Reform des Kommunalverfassungssystems durchgesetzt. Und genauso können sie auch eine Systemreform in den Ländern selbst in die Hand nehmen. Daß dafür sehr viel spricht, belegt eine mit summa cum laude bewertete Speyerer Dissertation, die die Auswirkungen einer solchen Reform in alle Richtungen durchleuchtet.

Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim:Der renommierte Verfassungsrechtler und erfolgreiche Publizist gilt als einer der profiliertesten Kritiker der sogenannten politischen Klasse. Seit 1981 ist er Professor für Öffentliches Recht und Verfassungslehre an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, deren Rektor er von 1993 bis 1995 war. Zuvor leitete er von 1968 bis 1978 das Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler. Von 1993 bis 1996 war er Mitglied des Verfassungsgerichtes des Landes Brandenburg. Mit seinen Büchern kritisiert der 1939 in Darmstadt geborene von Arnim immer wieder scharf die rapide zunehmende Abkapselung der politischen Klasse von Volk, Verfassung und Demokratie. Zuletzt erschienen: „Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik“ (Bertelsmann, 2009), „Die Deutschlandakte. Was Politiker und Wirtschaftsbosse unserem Land antun“ (Bertelsmann, 2008) und „Korruption. Netzwerke in Politik, Ämtern und Wirtschaft“ (Knaur, 2003).

 

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