© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/10 02. Juli 2010

Nichts dazugelernt
Bildung: Kinder als Opfer egalitaristischer Experimentierfreude
Ellen Kositza

Nach diversen Pisa-Durchgängen wurde nun abermals ein bundesweiter Schülertest durchgeführt. Auf Basis der gültigen Bildungstandards wurden die Leistungen von rund 40.000 Neuntkläßlern in sämtlichen Bundesländern geprüft. Untersucht wurden verschiedene Kernkompetenzen (Hörverständnis, Rechtschreibung) in den Fächern Deutsch und Englisch. Wieder sind die Unterschiede gewaltig: Bremens Pennäler hinken teils anderthalb Jahre hinter den süddeutschen Musterschülern her!

Schwierig, darüber keine Satire zu schreiben! Denn: Nicht nur die einzelnen Ergebnisse und die Ranglistenplätze gleichen frappierend den Resultaten des Pisa-Ländervergleichs von 2002. Auch die Kommentare sogenannter Bildungsexperten gerade der „Verliererländer“ sind eine Wiederholung der ideologischen Glaubenssätze von damals. Diejenigen, die seit Jahrzehnten mit egalitaristischen „Einheitsschul“-Modellen experimentieren und nun wieder fatal abschnitten, weisen die Ergebnisse von sich. Faustregel: Das Nichts-dazugelernt-Haben der Schüler korreliert nur allzu verräterisch mit dem Nichts-dazu-lernen-Wollen der verantwortlichen Bildungsarchitekten.

Für die Schlußlichter der Studie, die einmal mehr sämtliche Stadtstaaten sowie Brandenburg bilden, sind die Erfolge der ewigen – und konstant konservativ regierten – Spitzenreiter Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen quasi ungültig, weil „erkauft“: durch „Leistungsdruck“ und „soziale Segregation“. Durch radikales Aussieben von sozial benachteiligten Kindern nach der vierten Klasse würden in den südlichen Ländern „Potential und Kompetenz in brutaler Weise zerstört“ (K. Rönicke in Der Freitag).

Daß auch Bremen nach vier Grundschuljahren „siebt“ und bayrische Schüler auch jenseits des Gymnasiums überdurchschnittlich abschnitten, wird bei solcher Argumentation gern übersehen. Wieder heißt es im Klageton, die „Chancen“ eines Kindes aus der Oberschicht, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, seien „4,5 Mal so groß“ wie die eines Facharbeiterkindes. Das klingt ungerecht, ist es aber nicht, wenn man „Chancen“ durch „Wahrscheinlichkeit“ ersetzt und dem Zusatz des durchführenden Instituts mißtraut, daß bei solch Gegenüberstellung von Schülern mit „gleicher Intelligenz und Lernvermögen“ die Rede sei. Weder Intelligenz noch „Lernvermögen“ wurden nämlich gemessen. Intelligenzmessungen sind schon lange verpönt, ausgegangen wird fraglos von einer gleichen Verteilung kognitiver Fähigkeiten quer durch alle Schichten.

Und Schullaufbahn-Empfehlungen, falls das unklar wäre, werden in Deutschland immer noch aufgrund von Noten und nicht des elterlichen Berufs geschrieben! Der Lehrer, der heute einen Schüler aufgrund seines ausländischen Namens oder seiner Abkunft aus einem Hartz-IV-Haushalt schlechter benotet, müßte einmal präsentiert werden. Für Matthias Anbuhl vom DGB wäre das „Ungerechtigkeits“-Problem so lösbar: Um zu verhindern, daß Bildung „ein vererbtes Privileg höherer Schichten“ bleibe, seien an den Schulen verstärkt Sozialarbeiter einzusetzen. Er rechnet mit 40.000 Stellen zu rund zwei Milliarden Euro jährlich.

Dabei ist es so: 1970 erreichten elf Prozent aller Absolventen die Hochschulreife, 1980 waren es 22, 1990 31, 2000 37 und im vergangenen Jahr 43 Prozent. Dies, ohne daß sich der Anteil von „Oberschichtkindern“ erhöht hätte! Dennoch wird mangelnde Förderung und eine immer noch verhaltene Bildungsexpansion beklagt. Der Misere, die die Verkürzung der Gymnasialjahre von neun auf acht („G 8“) bedeutet, hat sich die Studie nicht gewidmet. Dabei ist gerade diese Anpassung an internationale Standards mit meßbaren Qualitätsmängeln und einem endgültigen Abschied vom humanistischen Bildungs-ideal erkauft worden.

Da die Studie im Trubel um Bundespräsidentenwahl und WM ohnehin im Vergleich zu Pisa wenig Aufmerksamkeit auf sich zog, gilt dies erst recht für Details am Rande: Wie die Ergebnisse ausfielen, rechnete man sämtliche Schüler mit „Migrationshintergrund“ heraus, hat keiner gefragt. Sollte es Zufall sein, daß ausgerechnet und allein in den übel benoteten Stadtstaaten die Ausländerquote bei 30 Prozent liegt? Und was sagt es über die Integrationsfähigkeit ethnischer Gruppen aus, wenn türkischstämmige Schüler deutlich schlechter abschneiden als Schüler aus Polen und der Sowjetunion?

Und ein weiteres: Die Schere zwischen den Leistungen von Mädchen und Jungen klafft immer weiter. Beispielsweise erreichten in der Prüfungskategorie Rechtschreibung nahezu in allen Bundesländern die Mädchen durchschnittlich mindestens 500 Punkte (Bayern: 552). Die Jungen hingegen sind in jedem (!) Land unter der 500-Punkte-Marke geblieben. So ergibt sich, daß die Brandenburger Schülerin sich orthographisch mit einem bayerischen Schüler messen kann, der sich wiederum aber keinesfalls mit seiner weiblichen Sitznachbarin. Wird das mal einer in Gerechtigkeitsprozentpunkte umrechnen? Auf Kommentarspalten der Online-Redaktionen wird schon angeregt, daß sich „benachteiligte Arbeiterkinder“ analog zur Frauen-, Homo-, und Anti-Rassismus-Bewegung „organisieren“ sollen, um „gegen Diskriminierung und für ihre Rechte“ zu kämpfen. Wie gesagt: Schwierig, keine Satire zu schreiben.

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