© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/10 25. Juni 2010

Die EU und die Tschechischen Vertreibungsdekrete
Verneinung der Rechtsidee
von Wolfgang Philipp

Der tschechische Staatspräsident Vaclav Klaus hat im Herbst 2009 die Unterzeichnung des Lissabon-Vertrages davon abhängig gemacht, daß die berüchtigten Beneš-Dekrete der Jahre 1945/46 durch das europäische Recht nicht in Frage gestellt werden.

Schon dem Lissabon-Vertrag war ein „Protokoll Nr. 30“ über die Anwendung (besser: Nichtanwendung) der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich“ beigefügt worden. Am 29./30. Oktober 2009 hat der Europäische Rat die Bestimmungen dieses Protokolls durch ein weiteres Protokoll auf die Tschechische Republik ausgedehnt. Daraufhin ist Tschechien dem Lissabon-Vertrag beigetreten. In der Öffentlichkeit ist aber nicht deutlich geworden, daß die Erweiterung des „Protokolls Nr. 30“ auf Tschechien noch gar nicht in Kraft ist. Sie bedarf als Ergänzung des Lissabon-Vertrages noch der Ratifizierung durch alle 27 Mitgliedstaaten der EU. Der Deutsche Bundestag hat also Gelegenheit, sich mit den hier aufgeworfenen Fragen zu befassen. Diese werden im folgenden auf den Tisch gelegt: Eine falsche Antwort auf das Ansinnen von Vaclav Klaus würde die rechtsstaatliche Ordnung der gesamten Union in ihren Grundfesten erschüttern.

Zunächst ist eine Unterscheidung ans Licht zu ziehen, die bei Betrachtung der seit 1933 in Europa begangenen Unrechtstaten kaum je bewußt gemacht worden ist. Die in der NS-Zeit insbesondere im Zusammenhang mit der Judenverfolgung deutscherseits geschehenen Verbrechen hatten in aller Regel keine gesetzliche Grundlage. Sie wurden von SS-Einheiten und Sonderkommandos auf Befehl durchgeführt. Man wagte nicht, das Unrecht auch noch per Gesetz vor aller Welt „Recht“ zu nennen. Auch geschah das meiste im Ausland oder im geheimen. Wer darüber sprach, war selbst gefährdet. Kein Gesetz in der Zeit von 1933 bis 1945 hat in Abweichung vom normalen Strafrecht die Tötung unschuldiger Menschen erlaubt oder auch nur straffrei gestellt: weder den Holocaust noch Morde in den KZs, noch die Tötung der Behinderten durch das „Euthanasieprogramm“. Einen Sonderfall bilden die sogenannten „Nürnberger Gesetze“ vom 15. September 1935 und deren Folgegesetze und Verordnungen: Die Eheschließung zwischen Juden und „Ariern“ wurde verboten, auch durften Juden kein öffentliches Amt annehmen. 1938 entzog man jüdischen Ärzten und Rechtsanwälten die Zulassung. Bei Deportationen verloren Juden mit dem Grenzübertritt ihre Staatsangehörigkeit und ihr Vermögen. Ab 1939 mußten in Polen, ab 1941 auch im Reich Juden den „Judenstern“ tragen. 1933 gab es in Deutschland rund 500.000 Juden.

Diese Gesetze wurden schon am 20. September 1945 aufgehoben. Deutschland hat sich von diesen und anderen Untaten distanziert und so gut wie möglich Wiedergutmachung geleistet. Das ist das eine.

Die von Vaclav Klaus verteidigten Beneš-Dekrete sind nach Form und Inhalt eine ins Maßlose übersteigerte, gegen die deutsche Minderheit gerichtete Nachbildung der Nürnberger Rassegesetze des NS-Regimes. Der Form nach handelt es sich um höchstrangige Normen, denn die von Beneš erlassenen „Dekrete“ wurden mit Verfassungsgesetz vom 28. März 1946 von der provisorischen Nationalversammlung rückwirkend bestätigt und in den Rang von Verfassungsgesetzen erhoben. Sie gelten noch heute. Das ist das andere.

Mit der Praxis, offenkundiges Unrecht per Verfassungsgesetz als „Recht“ zu bezeichnen, übertrafen die Tschechen sogar noch die Nazis. Daß ein Staat Morde durch Gesetz für rechtmäßig erklärt, ist ein absolutes Novum und kann nicht geduldet werden.

Am 8. Mai 1946 verabschiedete die gleiche Nationalversammlung ein „Gesetz über die Rechtmäßigkeit von Handlungen, welche mit dem Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zusammenhängen“ (Gesetz Nr. 115). Danach ist „eine Handlung, die in der Zeit vom 30.09.1938 bis zum 28.10.1945 vorgenommen wurde und deren Zweck es war, einen Beitrag zum Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zu leisten, oder die eine gerechte Vergeltung für Taten der Okkupanten oder ihrer Helfershelfer zum Ziele hatte, auch dann nicht widerrechtlich, wenn sie sonst nach den geltenden Vorschriften strafbar gewesen wäre.“ War jemand bereits verurteilt worden, sollte das Verfahren wieder aufgenommen werden.

Dieses „Straftatenrechtfertigungsgesetz“ ist als Normsetzung das furchtbarste Gesetz, das je von einem Staat verabschiedet wurde. Als Mittel eines totalitären Unrechtsstaates ist es die absolute Verneinung der Rechtsidee: Das offenkundige Unrecht wird per Verfassungsgesetz für immer „Recht“ genannt, eine Steigerung, welche die Tschechen sogar den Nationalsozialisten voraushatten, von der Nürnberger Rassegesetzgebung abgesehen. Die Beneš-Dekrete sind die Grundlage der Vertreibung von rund 3,2 Millionen Deutschen aus dem Sudetenland, von denen rund 250.000 durch Mord und Totschlag ihr Leben verloren haben: „Werft die Deutschen aus ihren Wohnungen, macht Platz für unsere Menschen – wir hätten das schon im Jahre 1918 erledigen wollen, aber damals hielten uns die Briten die Hände gebunden, jetzt aber wollen wir das erledigen“, formulierte Beneš in einer Rede am 3. Juni 1945 in Tabor. Die Vertreibung der Sudetendeutschen war also eine schon vor Kriegsbeginn vorhandene Zielsetzung. Sie sind zwangsweise ausgebürgert worden. Ihr Eigentum an Grund und Boden, Geldmitteln und beweglichen Gütern fiel an den tschechoslowakischen Staat. Die Deutschen mußten – dem „Judenstern“ vergleichbar – eine Armbinde mit der Aufschrift „N“ (Němec = Deutscher) tragen und waren dadurch rechtlos.

Diese Taten gehören nach Art und Ausmaß zu den schwersten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Die Beneš-Dekrete und ihr Rechtfertigungsgesetz sind aber bis heute Bestandteil der tschechischen „Rechtsordnung“. Das Gesetz Nr. 115 schließt nicht nur Wiedergutmachung aus, sondern rechtfertigt auch die grausame Ermordung unschuldiger Menschen, darunter viele Frauen und Kinder (siehe „Morden auf tschechisch“, JF 21/10). Das bedeutet auch, daß die Ermordeten bis heute nicht rehabilitiert worden sind. Tschechien hat nicht einmal einen Weg gesucht, diese Mordtaten wenigstens für rechtswidrig zu erklären und die Mörder allenfalls straflos zu lassen. Daß Tschechien in einer Deutsch-Tschechischen Erklärung 1997 die Folgen dieses Gesetzes „bedauert“ hat, ändert nichts, solange dieses Gesetz nicht aufgehoben wird. Da dies nicht geschehen ist, müssen die Hinterbliebenen der Ermordeten bis heute damit leben, daß nach tschechischem Recht ihre Angehörigen rechtmäßig umgebracht worden sind. Mit dieser sogenannten Rechtsordnung ist die Tschechei der EU beigetreten. Von einer Aufarbeitung dieser Greuel durch die Tschechen ist wenig zu spüren.

Das Europäische Parlament hat im November 2002 in einer Entschließung zu Recht erklärt, das Gesetz Nr. 115 vom 8. Mai 1946 habe vom Standpunkt moderner Rechtsstaatlichkeit keine Existenzberechtigung. Die Maßnahmen verstießen eklatant gegen europäische Grundrechte und die gemeinsame Rechtskultur der Europäer. Durchgesetzt hat sich aber nicht das EU-Parlament, sondern eine Stellungnahme des Prager Außenministeriums aus dem Jahre 2002. Danach sollen die Beneš-Dekrete gar „zum Fundament der Europäischen Union“ (!) gehören. Nicht die Beibehaltung der Dekrete, sondern die Forderung nach ihrer Aufhebung stelle „die Grundlagen der Union und den Gedanken der Europäischen Union selbst in Frage“: eine „Rechtsauffassung“, wie sie perverser nicht sein kann.

Das Europäische Parlament hat Gutachten von drei Professoren zu den Beneš-Dekreten und zum Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union eingeholt. Die Gutachter kamen zu dem fragwürdigen Ergebnis, eine Aufhebung des Gesetzes Nr. 115 sei nicht zwingend, weil die Täter Vertrauensschutz in dem Sinne hätten, daß sie für derartige Handlungen nicht verfolgt werden. Da dieses Gesetz jedoch im Widerspruch zu den Menschenrechten und allen grundlegenden Rechtsnormen stehe, sind die Professoren der Auffassung, daß die Tschechische Republik dies förmlich anerkennen sollte. Im übrigen sei zu beachten, daß die europäischen Rechtsnormen „nicht rückwirkend“ gelten. Diese Argumente sind zum Teil anfechtbar, weil das Recht auf Eigentum und vor allem das Recht auf Leben Menschenrechte sind, die allgemein gelten, auch wenn sie nicht in Rechtsnormen verankert sind. Ihre Geltung in den Jahren 1945/46 hängt nicht davon ab, ob europäische Grundrechtsnormen im Jahre 2009 präzise formuliert und in der europäischen Grundrechtscharta verankert werden.

Statt diesen Standpunkt im Interesse der europäischen Rechtsordnung durchzusetzen, hat der Europäische Rat unter grober Mißachtung des Europäischen Parlaments das Protokoll Nr. 30 auf Tschechien ausgeweitet. Die Beneš-Dekrete kommen darin nicht vor, sind aber gemeint. Nach dem Protokoll Nr. 30 bewirkt die Charta der Grundrechte der Europäischen Union keine Ausweitung der Befugnisse des Gerichtshofs der Europäischen Union oder eines Gerichts (Polens, des Vereinigten Königreichs bzw. der Tschechischen Republik) zu der Feststellung, daß die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen dieser Länder nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang stehen. Das bedeutet letztlich, daß die Charta in Tschechien gar nicht gilt, weil das heimische (Un-)Recht vorgeht.

Die Haltung der tschechischen Regierung, die Beneš-Dekrete in ihrem vollen Bestand zu erhalten, wird von der EU respektiert. Damit wird dieses Unrechtssystem Teil der gesamteuropäischen Rechtsordnung, deren Grundlagen schwer beeinträchtigt werden.

Der Text wird unterschiedlich ausgelegt. Auf jeden Fall wird aber durch diese Klausel die Haltung der tschechischen Regierung, die Beneš-Dekrete uneingeschränkt in ihrem vollen Bestand zu erhalten, von der EU respektiert. Man stelle sich einmal vor, Deutschland hätte die Nürnberger Rassegesetze aufrechterhalten und davon den Beitritt zur EU abhängig gemacht: Dies wäre zu Recht auf den Abscheu der gesamten zivilisierten Welt gestoßen. Die EU nimmt aber einen Staat auf, der – anders als Deutschland – sein brutales totalitäres Vorgehen gegenüber der deutschen Minderheit nicht aufarbeitet, sondern von Zeit zu Zeit durch besondere Erklärungen auch noch verfestigt. Damit wird dieses Unrechtssystem Teil der gesamt­europäischen Rechtsordnung, die dadurch in ihren Grundlagen aufs schwerste beeinträchtigt wird.

Mit einem Staat, der die Vertreibung der Minderheit von 3,2 Millionen Menschen und die Ermordung von 250.000 Angehörigen dieser Minderheit für rechtmäßig erklärt, kann man in Rechtsgemeinschaft nicht zusammenleben. Der Deutsche Bundestag müßte deshalb darauf hinwirken, daß zumindest die ermordeten Sudetendeutschen rehabilitiert und ihre Hinrichtungen nicht als rechtmäßig betrachtet werden, als ob sie Verbrecher gewesen wären. Eine genaue Analyse (siehe Forum-Artikel, JF 20/10) hat ergeben, daß trotz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die EU inzwischen ein Staat geworden ist, der kein Staatsvolk mehr braucht und sich eher wie eine Fremdherrschaft über die 27 Mitgliedstaaten wölbt. Alle Rechtsordnungen sind inzwischen über die EU miteinander verzahnt. In der Literatur wird die Auffassung vertreten, von der EU gehe eine neue Werteordnung aus, welche die Werteordnung der einzelnen Mitgliedstaaten – auch des Grundgesetzes – verdränge. Es ist Aufgabe der Juristen, dafür zu sorgen, daß keine Unrechtselemente in diesen Rechtsverbund einfließen. Unrechtsstaaten sind als Mitglied der EU nicht tragbar.

Tschechien ist ein Unrechtsstaat, solange es seine Vergangenheit nicht – ähnlich wie Deutschland – aufarbeitet und die Beneš-Dekrete auf geeignete Weise aus der Welt schafft. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Tatbestand, daß die Beneš-Dekrete mit Verfassungsrang von der Nationalversammlung beschlossen worden sind. Daß ein Staat Morde durch Gesetz für rechtmäßig erklärt, ist in der zivilisierten Welt, zumindest aber in Europa ein absolutes Novum und kann nicht geduldet werden. Auch besteht die Gefahr, daß sich daraus als völkerrechtliches Präjudiz Auswirkungen für die Zukunft ergeben. Beispielsweise könnte die Türkei – wenn es denn zu Beitrittsverhandlungen im engeren Sinne kommt – verlangen, auch die Verfolgung der Armenier in ähnlicher Weise zu behandeln. Auf diese Weise wird das Recht der Union durch das Unrecht, das aus einzelnen Staaten kommt, von innen her zersetzt. Wer Europa beitreten will, muß als Staat nicht nur seine Finanzen, sondern auch sein Recht in Ordnung halten.

Es ist daher zwingend, daß der Deutsche Bundestag sich seiner Würde als frei gewähltes deutsches Parlament erinnert und die Ergänzung des Protokolls Nr. 30 für Tschechien ablehnt.

 

Dr. Wolfgang Philipp arbeitet als Rechtsanwalt in Mannheim. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über die problematische De-facto-Staatlichkeit der EU („Staat ohne Staatsvolk“, JF 20/10).

Foto: Vertreibung der Sudetendeutschen: Die Beneš-Dekrete und ihr Rechtfertigungsgesetz sind bis heute Bestandteil der tschechischen „Rechtsordnung“. Das Gesetz Nr. 115 schließt nicht nur Wiedergutmachung aus, sondern rechtfertigt auch die grausame Ermordung unschuldiger Menschen, darunter viele Frauen und Kinder.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen