© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/10 25. Juni 2010

Chaos im russischen Hinterhof
Kirgistan: Die zentralasiatische Ex-Sowjetrepublik kommt nach dem blutigen Umsturz vom April nicht zur Ruhe / Vergeblicher Hilferuf nach Moskau
Albrecht Rothacher

Das Fergana-Tal ist schon lange ein Pulverfaß. Von Stalin wurde es so diabolisch zwischen den zentralasiatischen Sowjetrepubliken Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan aufgeteilt, daß jede Nationalität der anderen Feind wurde. Das fruchtbare Hochgebirgsgebiet, dessen fromme Muslime das Rückgrat des pantürkischen Basmatschen-Aufstands gegen die Bolschewisten bildeten, wurde so seiner Existenzgrundlagen beraubt. Mit dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in dem seit 1991 unabhängigen Kirgistan brachen am 10. Juni in den zum Ferganatal gehörenden Städten Südkirgistans ethnische Massaker aus. Dabei starben Tausende Menschen, Hunderttausende wurden vertrieben.

Laut UN-Beobachtern begannen die Morde als sorgfältig vorbereitete Kampagne. An fünf Stellen griffen bewaffnete Banden usbekische Viertel in der Provinzhauptstadt Osch an. Fünf Tage lang wurden Häuser, Geschäfte und Basare systematisch geplündert und gebrandschatzt, Frauen vergewaltigt und die Männer erschossen. Scharfschützen gingen in Jeeps gezielt auf Menschenjagd. Militär und Polizei waren zunächst verschwunden. Als sie eingriffen, beteiligten sich die Uniformierten oft genug an den Morden und Plünderungen. Später griffen die Unruhen auch auf die Nachbarstadt Dschalalabad und usbekische Dörfer in der Umgebung über. Die dortige „Universität der Völkerfreundschaft“ ging in Flammen auf. Die unter Drogen- und Alkoholeinfluß stehenden Banden kämpften im allgemeinen Chaos auch gegeneinander.

Als Drahtzieher wurde der im Minsker Exil lebende Ex-Präsident Kurmanbek Bakijew ausgemacht. Der frühere Vizechef des Obersten Sowjets des Gebiets Dschalalabat hatte für sich und seinen von dort stammenden Klan nach der „Tulpenrevolution“ von 2005 die Macht an sich gerissen. Mit seinen Hintermännern aus dem organisierten Verbrechen hat er an dem über Osch laufenden afghanischen Rauschgifthandel nach Rußland und Europa mitverdient. Gefolgsleute wurden in die Staats- und Sicherheitsapparate eingeschleust.

Volksgruppenkonflikte, Islamisten und Mafia-Clans

Die Grenzen zwischen organisierter Kriminalität und Staat wurden verwischt. Schon beim Volksaufstand vom April (JF 16/10) hatte Bakijews Bruder Schanysch den Feuerbefehl erteilt, dem in der Hauptstadt Bischkek 85 Menschen zum Opfer fielen. Im Mai wurde ein Telefonat von Präsidentensohn Maxim mit seinem Onkel Schanysch bekannt, in dem er diesen auffordert, mit 500 Mann das Land zu destabilisieren. Die Zeit drängte. Denn für den 27. Juni ist ein Referendum angesetzt, das das Präsidialregime in eine parlamentarische Demokratie verwandeln und den Umsturz vom April legitimieren soll.

Bakijews Gefolgsleute fürchten daher um ihre Besitzungen. So meuterten bereits Ende April 500 Polizisten im Süden gegen den neuen Innenminister. Mitte Mai wurden in Osch, Dschalalabad und Batken drei Gouverneurspaläste gestürmt, der Regionalflughafen besetzt und die neuen Gouverneure verjagt. Mit der neuen Regierung verbündete usbekische Milizen stellten die Ordnung wieder her. Einige dem Bakijew-Klan gehörenden Villen brannten dabei ab. Der mutmaßliche Hauptaufrührer, der Gangsterboß „Schwarzer Ajbek“ fand kürzlich den Tod. Jetzt erfolgte die kollektive Rache an den Usbeken.

Schon 1990 hatte es bewaffnete Kämpfe zwischen Usbeken und Kirgisen gegeben. Damals ging es um Wasser- und Weiderecht und die Privatisierung der von Usbeken geführten riesigen Lenin-Kolchose. Die wilde Entkollektivierung hat viele unrentable Kleinbauernstellen geschaffen, während die ehemaligen Kolchoschefs das beste Land und die größten Viehherden besitzen. Wie vom Nationalschriftsteller Tschingis Aitmatow eindrucksvoll beschrieben, sind die Kirgisen nomadische Viehhirten. Die gleichfalls turksprachigen Usbeken in Südkirgistan sind dagegen Ackerbauern, Händler und Handwerker in den Städten. Gleichzeitig kontrollieren die Kirgisen als Titularnation die Verwaltung und den Sicherheitsapparat.

Nach Ausbruch der Unruhen bat die Interimspräsidentin Rosa Otunbajewa Rußland um militärisches Eingreifen. Doch Präsident Dmitri Medwedew lehnte ab, obwohl Kirgistan als „Nahes Ausland“ zur russischen Einflußsphäre zählt. Die aus sieben Ex-Sowjetrepubliken bestehende Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (ODKB) funktioniere nur gegen einen Angriff von außen. Die Unruhen seien eine innere Angelegenheit Kirgistans, argumentierte Moskau. Das Verteidigungsbündnis wolle ohne UN-Mandat nicht eingreifen. Auch die in Taschkent versammelte Shanghai-Organisation (SOZ), die 2001 auf chinesisch-russische Initiative entstand (JF 44/07), tat nichts.

Der Grund für die Zurückhaltung ist verständlich: Rußland hat mit seinen ungelösten Konflikten im muslimischen Nordkaukasus genug Probleme. Zweifellos wäre es seiner schnellen Eingreiftruppe ein leichtes, einige marodierende Mordbanden unschädlich zu machen. Doch wären dann die russischen Truppen im islamischen Fergana-Tal selbst zum Problem geworden. Im Untergrund agitieren weiter die gewalttätige Islamische Bewegung Usbekistan (IBU), der sich auch die „Sauerland-Terroristen“ angeschlossen hatten, und die machtvollere Hizb-ut-Tahrir, die in Zentralasien nach dem Sturz der gottlosen Diktatoren ein Kalifat errichten will.

So hatte Usbekistans Präsident Islam Karimow in der Fergana-Stadt Andijon (Andischan) vor fünf Jahren Hunderte seiner eigenen Bürger niederschießen lassen, weil sie sich an islamistischen Demonstrationen beteiligt hatten. Seine wiederholten Grenzschließungen haben die Kleinhändler und die Wirtschaft des Fergana-Tals schwer geschädigt. Mit dem iranischsprachigen Tadschikistan führt Karimow regelmäßig kleine Grenzkriege. Der dortige Bürgerkrieg hat in den neunziger Jahren etwa 60.000 Menschenleben gefordert. Ein russisches Eingreifen in diesem Pulverfaß wäre nach der Afghanistan-Erfahrung in der russischen Öffentlichkeit enorm unpopulär gewesen. Deshalb lehnte Moskau das erste aufrichtige und verzweifelte Hilfsersuchen eines benachbarten Landes in der jüngsten Zeitgeschichte ab.

 

Dr. Albrecht Rothacher ist Asien-Experte. 2008 veröffentlichte er das Buch „Stalins langer Schatten. Medwedjews Rußland und der postsowjetische Raum“ (Ares Verlag Graz).

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